Sie hatten ja auch ein As im Ärmel: Produzent George Martin, gewillt, geduldig und vor allem auch kompetent genug, selbst ausgefallene Wünsche seiner Schützlinge zu realisieren. Etwa besagte Tape-Loops in ›Tomorrow Never Knows‹, die er mit kundiger Hand und per rudimentärem Multitracking dazumischte, die orchestrale Kakophonie in ›A Day In The Life‹, die Vari-Speed-Spielereien in ›I’m The Walrus‹ oder auch das Streichquartett für ›Eleanor Rigby‹. Die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen. Vorsprung durch Technik.
Ein massiver Wettbewerbsvorteil, zumal die Beatles ab 1966 quasi Narrenfreiheit im Studio genossen. Niemand blickte auf die Uhr, niemand wies mit vorwurfsvollem Ton darauf hin, dass Studiotage richtig Geld kosten. PLEASE PLEASE ME war 1963 in ziemlich genau neun Stunden und 45 Minuten aufgenommen worden, die Produktion von SGT. PEPPER zog sich von November 1966 bis Mai 1967 – natürlich mit Unterbrechungen. Dennoch entstand dieses Album in Vierspur-Technik, was in Anbetracht des Klangbildes nahezu unglaublich erscheint. Der von George Martin perfektionierte Trick bestand darin, vier bereits aufgenommene Spuren auf die freie Spur eines weiteren Bandgerätes zu überspielen, um Platz zu schaffen. Dabei musste quasi in Echtzeit abgemischt werden, denn nachträgliche Korrekturen der zusammengefassten Spur waren unmöglich.
Wurde von mehreren Bandgeräten überspielt, mussten sie absolut synchron laufen, in Prä-MIDI-Zeiten eine echte Herausforderung. Jedenfalls: Die Erkenntnis, dass ein Studio viel mehr sein kann als eine sterile Ansammlung von Mikrofonen, Mischpulten und Aufnahmegeräten, verdanken wir Sir George Martin und den Beatles. Ab jetzt war das Studio Klanglabor, Instrument, kreative Heimstatt, was die Herangehensweise an Albumproduktionen komplett revolutionierte. Man nahm sich Zeit. Zeit, ohne die all die Progrock-Eskapaden und Konzeptwerke der 70er Jahre undenkbar geblieben wären.
Aufregende Produktionen und geniales Songwriting sind das eine, die Darreichungsform spielt, wie man heute weiß, aber ebenfalls eine große Rolle. Anfang der 60er Jahre war man in dieser Hinsicht noch reichlich unbeleckt. Singles dominierten den Pop-Markt, Alben waren normalerweise nur Sammlungen diverser Single-A- und B-Seiten, ergänzt um ein bisschen Füllmaterial. Was die Beatles anfangs ganz genauso handhabten, doch 1965 geschah etwas Entscheidendes. Der LP-Markt gewann damals zunehmend an Bedeutung, die Beatles erkannten die Zeichen der Zeit als Erste.
RUBBER SOUL, ihr neues Album, war zwar kein Konzeptwerk – ebenso wenig wie zwei Jahre später SGT. PEPPER – doch wirkten die 14 Stücke fast wie aus einem Guss. RUBBER SOUL präsentierte sich nicht mehr als eher zufällig wirkendes Sammelsurium, sondern als halbwegs stringente Abfolge aufeinander abgestimmter Songs, wodurch das Album letztlich mehr war als nur die Summe seiner Einzelteile. Ein Riesenschritt, der das LP-Format als eigenständige Kunstform zu etablieren half und die Kriterien des Mediums Langspielplatte neu definierte. Die konsequente Steigerung folgte dann 1967: Mit SGT. PEPPER erschien ein progressives Gesamtkunstwerk aus aufwendig produzierter Musik, einem ikonengleichen Artwork, dessen astronomische Produktionskosten EMI-Chef Sir Joseph Lockwood der Überlieferung nach Schweißperlen auf die Stirn jagten, und – erstmals bei einem britischen Album – abgedruckten Songtexten. Eine Pioniertat, wieder einmal.
Bisweilen wird behauptet, die Beatles hätten auch den Video-Clip erfunden. Stimmt nicht so ganz. Diese Ehre gebührt den Animals, die 1964 im US-Fernsehen so gefragt waren, dass sie für ihren Welthit ›The House Of The Rising Sun‹ einen kleinen Promotionfilm drehten. Ein überaus unspektakulärer Streifen, der die Band beim Musizieren zeigt.
Die Beatles nutzen das Medium zwei Jahre später deutlich mutiger, ihre Kurzfilme zu ›Paperback Writer‹ und ›Rain‹ waren stimmungsvolle Inszenierungen, einfach produziert, aber wirkungsvoll. Der Promofilm zu ›Strawberry Fields Forever‹ geriet 1967 dann zum Meilenstein: Ein surrealistisches Kleinod, erfrischend rätselhaft und relativ aufwendig in Szene gesetzt. Dennoch: MTV haben die Beatles nicht erfunden. Sie konnten sich ja schließlich nicht um alles kümmern…
Toller Artikel, glänzend formuliert!! Kleine Korrektur: Die Orchestrierung von „Eleonor Rigby“ erfolgte durch ein StreichOKTETT. Liebe Grüße!
Etwas hat sicher auch die immer noch sehr große Bewunderung für die Beatles oder auch Led Zeppelin bewirkt: Sie haben rechtzeitig aufgehört. Dadurch wird der Blick auf ihre Genialität nicht durch mittelmäßige und belanglose Spät- und Alterswerke getrübt wie etwa bei den Rolling Stones oder leider auch Bob Dylan.
„Dennoch entstand dieses Album in Vierspur-Technik, was in Anbetracht des Klangbildes nahezu unglaublich erscheint.“ Ringo hat aber dennoch gemeint, das wären zwei Spuren zu viel.