Nach ihrem vielbeachteten Soloalbum VALVE BONE WOE, das im vergangenen Jahr erschien, hat Chrissie Hynde ihre Band Pretenders erneut reaktiviert. Ergebnis: das neue, elfte Studioalbum HATE FOR SALE, das von Stephen Street (Smiths, Blur) produziert wurde. Die Songs schrieb Chrissie allesamt zusammen mit ihrem Gitarristen James Walbourne. Im Interview spricht die Frontfrau über ihre Jugend in Ohio, ihre Anfangszeit in London, Umweltschutz, Frauenpower, Punk und was ihr die Rock And Roll Hall Of Fame bedeutet.
Chrissie, als Musikerin und Macherin giltst du als unangepasst und meinungsstark. Warst du als Jugendliche schon so rebellisch?
Nein, ich war total normal. Ehrlich! Ich wuchs bei meinen Eltern in Akron, Ohio auf, mit meinem Bruder Terry. Bis 17 wusste ich gar nicht, was Rebellion überhaupt ist. Dann aber wurde ich zur Rebellin – indem ich mich entschied, Vegetarierin zu werden. Ende der 60er war das etwas Ungewöhnliches, ich gehörte zu einer Minderheit, aber darauf habe ich geschissen. Mir wurde klar, dass ich mit meiner Entscheidung recht hatte. Seit über 40 Jahren engagiere ich mich aktiv für die Sache, werde an jeder Ecke darauf angesprochen. Vegetarismus und Veganismus sind medial mittlerweile überpräsent und das ist gut so.
Für einige Protestaktionen wurdest du sogar hinter Gitter gebracht …
Ich landete ein paar Mal im Knast, stimmt. Aber das war es wert, denn es hat ja etwas
gebracht: Die Situation ist heute besser denn je, es hat sich ein kollektives Bewusstsein entwickelt
in puncto Ernährung, Tierhaltung und Umwelt. Es tut sich was.
… auch bei den Pretenders: Vier Jahre nach ALONE gibt es nun ein neues Album, HATE FOR SALE.
Die Platte sollte eigentlich schon früher erscheinen, aber immer wieder kam etwas dazwischen. Der Produzent und ich waren mit anderen Projekten beschäftigt. Ich habe in der Zeit mein Album VALVE BONE WOE gemacht, Konzerte gegeben – u. a. mit Stevie Nicks in Australien – und zu Hause viele Bilder gemalt. So zog sich die Arbeit hin.
Was hat es mit dem Titel HATE FOR SALE auf sich?
Wir lieben Punk. Man könnte den Titelsong als unseren Tribut an jene Punkband verstehen, die ich als musikalischste in diesem Genre bezeichnen würde – The Damned.
Stimmt es, dass die Punkwelle dich dazu ermutigt hat, selbst eine Band zu gründen?
Ja, Punk war sowas wie ein Loch im Zaun, durch das man schlüpfen und im Musikbusiness mitmischen konnte, auch wenn man selbst kein so guter Musiker war. Es gab keinerlei Regeln, man konnte tun, was man wollte, alles war plötzlich möglich. Ich war damals schon 24, 25, also für Popverhältnisse relativ alt, ich meine, die Beatles lösten sich bereits wieder auf, als sie Mitte, Ende 20 waren. Niemand in der Szene war jedenfalls so alt wie ich, höchstens noch Joe Strummer von The Clash. Also dachte ich mir: „Fuck it, ich versuch das jetzt einfach mit einer Band“.
So einfach war das aber wohl nicht …
Es dauerte ewig, bis ich die richtigen Musiker zusammen hatte. Die Suche führte mich bis nach Hereford im Südwesten Englands, damals bekannt für seine florierende Musikszene. Dort fand ich zwei Mitstreiter, Gitarrist James Honeyman-Scott und Bassist Pete Farndon, und wir legten los als The Pretenders. Leider starben beide viel zu früh.
Wie kam es eigentlich zu eurem Bandnamen?
Der kommt vom Song „The Great Pretender“, den ich damals in der Version von Sam Cooke im Ohr hatte. Das klang einfach gut.
Zur Welt gekommen bist du in einer Arbeiterstadt, Akron, Ohio, die besonders für ihre Reifenindustrie bekannt ist. Warum hat es dich schon recht früh von dort weggezogen?
Ich wollte was erleben. Mit 17 ging ich nach Cleveland, die nächstgrößere Stadt. Von da nach Kanada und Mexiko bis nach Europa. Ich lebte einige Zeit in Paris, schließlich landete ich in London. Das war 1973, gut drei Jahre, bevor dort der Punk ausbrach.
War es schwierig, sich in der vermeintlichen Männerdomäne Rock’n’Roll zu behaupten?
Im Gegenteil: Männer tragen meine Gitarren, sie nerven nicht mit irgendwelchen emotionalen Problemen und sind mir gegenüber echt easy-going. Ich hatte übrigens nie von vornherein geplant, eine Band nur mit Typen zu gründen. In Stellenanzeigen schrieb ich nie: männlicher Drummer gesucht. Ich spiele mit jedem, der mit mir Musik machen möchte. Aber es gibt halt vergleichsweise wenige Girls, die
Gitarre spielen. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist. Mädels wollen lieber Model sein als Gitarristin. Habe ich nie verstanden. Gitarre spielen macht doch viel mehr Spaß!
Du bist auch als Malerin kreativ …
Ich versuche jeden Tag, ein neues Bild zu malen. Vor ein paar Jahren habe ich mit der Malerei
begonnen, quasi als eine Art Hobby. Als Kind war es mein großer Traum, eines Tages Malerin zu
werden, aber dann kam der Rock’n’Roll daher …
… und du hast es bis in die Rock And Roll Hall Of Fame geschafft!
Das bedeutet mir nichts. Ich spiele in einer Rockband, weil ich nicht Teil des Establishments sein will. Und die Leute, die die Rock And Roll Hall Of Fame organisieren und dafür verantwortlich sind, sind das Establishment. Die ganze Idee dahinter ist in meinen Augen falsch und hat mit Rock’n’Roll nicht das Geringste zu tun. Darum mag ich es nicht. Meine Eltern waren noch am Leben, als ich in Cleveland mit den Pretenders in diese Hall Of Fame aufgenommen wurde, die fanden das klasse, für sie war das wichtig. Sie wären zutiefst enttäuscht gewesen, wenn ich diese Auszeichnung abgelehnt hätte. Also ging ich hin.
2011, sechs Jahre später, wurdest du, ebenfalls in Cleveland, von der Menschenrechtsorganisation HRC mit dem „Ally For Equality“-Award ausgezeichnet.
Fand ich deutlich besser, obwohl ich mich nicht mehr an die Preisverleihung erinnern kann. Ich verstehe, dass Awards vielen irgendwie wichtig sind, weil sie ganze Industrien am Leben halten, aber meine Sache sind sie nicht.
Siehst du dich als Künstlerin, die in der Öffentlichkeit steht und gehört wird, in einer besonderen Verantwortung?
Wenn man sich politisch äußern will, darf man das, man hat das Recht. Man muss sich nur im Klaren darüber sein, dass man automatisch zu einem Repräsentanten der Sache wird, für die man sich einsetzt. Und generell gilt: Ist man eine Dumpfbacke, sollte man besser den Mund halten. Leider hält sich nicht jeder dran. (lacht)
In den Medien wirst du gerne als Vorbild für unabhängige, starke Frauen bezeichnet, als eine Art Vorkämpferin für Frauenrechte. Stimmst du dem zu?
Ich weiß nicht. Die Zeitungen versuchen halt, „ihren Fisch zu verkaufen“, wie man hier sagt. Sie wollen dir einen Stempel aufdrücken. Ich habe keine Ahnung, was die damit sagen wollen. Ich bin eine ganz normale Frau, ich mag ganz normale Leute, gehe in ganz normale Restaurants.
Lebst du noch immer in London?
Allein in meinem Apartment mitten in der City, seit 46 Jahren. Ich habe keine Haustiere und tue all das, wovon ich mit 15 träumte: Musik machen, Bilder malen, einfach mal nur rumhängen. Meine beiden Kids sind erwachsen und längst aus dem Haus, ich habe die beste Zeit meines Lebens! Aber manchmal kann es auch ein hartes Stück Arbeit sein, ganz allein zu sein, wenn niemand da ist, mit dem man reden kann. Andererseits hat das Singleleben auch viele positive Seiten, wenn man seinen Seelenfrieden gefunden hat. Mir geht’s gut. Mit 60 habe ich mit dem Rauchen, dem Trinken und den Drogen aufgehört. Jetzt fühle ich mich wieder wie 15 und liebe es.