Bei Genesis habe er gelernt, dass man mit Musik Filme für die Augen, statt für die Ohren produzieren könne, sagt Steve Hackett. Mit seinem neuen Mammutwerk GENESIS REVISITED II begibt sich der wandelbare englische Gitarrist und Songwriter nun zurück in seine musikalische Vergangenheit, zur kommerziell erfolgreichsten Phase seiner Karriere, die er seit seinem Ausstieg bei Genesis im Jahre 1977 mit dem Erfolgsprojekt GTR und rund zwei Dutzend Soloveröffentlichungen eindrucksvoll fortgesetzt hat.
Steve Hackett bevorzugt Interviews zu früher Stunde. In England ist es erst kurz nach halb neun morgens, als er anruft. „Ich führe alles andere als ein typisches Rockstarleben“, verrät er. „Im Moment absolviere ich zudem ein striktes Trainingsprogramm, um fit zu bleiben. Ich gehe früh zu Bett und bin morgens um 6.00 Uhr wieder auf den Beinen.“ Es ist allerdings nicht allein der Drang nach sportlicher Betätigung, der den 62-Jährigen im Morgengrauen aus den Federn treibt. Sofort nach dem Aufstehen notiert er sich auch neue Songideen, die ihm nachts im Traum einfallen. „Ich arbeite sogar im Schlaf“, sagt er schulterzuckend. „Ich bin einfach ein richtiges Arbeitstier, aber ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.“
Von seinem selbst nach mehr als 40 Jahren im Musikbusiness ungebrochenen Arbeitseifer zeugt auch sein neues Album. Satte 145 Minuten lang rückt der Ausnahmegitarrist auf GENESIS REVISITED II Songs aus seiner Zeit bei der legendären englischen Prog-Rock-Band mit Peter Gabriel, Phil Collins, Mike Rutherford und Tony Banks in ein neues Licht. Hacketts neuerliche Beschäftigung mit den zwischen 1971 und 1977 entstandenen Stücken hat dabei gleich mehrere Gründe. Einer davon ist eine latente Unzufriedenheit mit den Originalversionen. „Diese Songs wurden damals sehr hastig aufgenommen, zwischen Tourneen, in Momenten, die wir uns freischaufeln mussten“, erinnert er sich und fügt hinzu: „Wenn du in einer Band arbeitest, hat letztlich jeder der Musiker eine Hand an den Reglern. Das führt nicht immer zu den bestmöglichen Ergebnissen. George Martin hat einmal darauf hingewiesen, dass Musiker zu sehr auf ihre eigenen Instrumente hören und alle anderen vernachlässigen. Ich dagegen versuche, im Studio wie ein Dirigent zu denken.“
Eine starke Hand war bei den Aufnahmen auch vonnöten, schließlich galt es, rund 35 Musiker und Gastsänger zu führen, darunter die Mitglieder von Hacketts aktueller Touring-Band, alte Bekannte wie John Wetton oder Neal Morse, aber auch eine Reihe jüngerer Musiker wie Conrad Keely von And You Will Know Us By The Trail Of Dead, Porcupine-Tree-Gründer Steven Wilson oder Opeth-Vordenker Mikael Åkerfeldt. Gerade die Beteiligung der aktuellen Prog-Generation ehrt den alten Hasen sehr. „Es war fraglos ein Ansporn, dass das Interesse an meinen frühen Ideen in letzter Zeit wieder gestiegen ist und so viele Bands des aktuellen Mainstreams sie als Ausgangspunkt nutzen“, gibt Hackett unumwunden zu und nennt exemplarisch Elbow, Muse und The Mars Volta. Dass gerade die jüngeren Gastsänger mit einem gewissen Maß an Ehrfurcht an GENESIS REVISITED II herangingen, wundert Hackett derweil nicht. Es sei verständlicherweise nicht leicht, in die Fußstapfen von Peter Gabriel oder Phil Collins zu treten. Deshalb war er bei den Aufnahmen auch bemüht, nicht auf den Träumen seiner Mitstreiter herumzutrampeln, wie er es nennt. „Wenn je-mand kleine Variationen und Ad-libs einbauen wollte, habe ich das zugelassen“, erinnert er sich. „Beim Singen geht es in erster Linie um Selbstvertrauen. Das durfte ich nicht zerstören.“
Schließlich sorgen nicht zuletzt die zahlreichen Gäste dafür, dass GENESIS REVISITED II ein anderes Gesicht besitzt als das 1996 entstandene erste Album mit Neuinterpretationen. Hatte Hackett damals vermehrt Musiker aus dem engeren Genesis-Umfeld um sich geschart, um die alten Stücke in neue Richtungen zu bugsieren, entfernte er sich personell dieses Mal weiter vom Genesis-Kosmos, um letztlich aber doch zu originalgetreueren Versionen zu gelangen. „Ich war auf der Suche nach Authentizität und interessierte mich für die kleinen Details, die am Ende für große Unterschiede sorgen“, sagt er über seine Herangehensweise. So hat beispielsweise ›The Chamber Of 32 Doors‹ nun die orchestrale Wucht, die sich Hackett schon immer für das Stück gewünscht hatte, während bei ›Fly On A Windshield‹ der orientalische Charakter stärker zum Vorschein kommt, auch wenn das bedeutete, dass die Gitarrenparts hörbar verändert wurden. Ähnlich auch bei ›Supper‘s Ready‹: „Dort verlasse ich am Ende den bekannten Pfad und spiele etwas, das stärker in Richtung Blues oder gar Heavy Metal deutet“, erklärt Hackett. „Bei Genesis wäre mir dafür bestimmt auf die Finger geklopft worden. Die anderen hätten das vermutlich für ge-schmacklos gehalten.“ Bei ›Musical Box‹ dagegen hielt sich der Gitarrist an sein altes Solo, nicht zuletzt, weil er sich an die akribische Kleinarbeit erinnerte, mit der er es damals Ton für Ton komponiert hatte. „Mike Rutherford saß neben mir und musste wieder und wieder die gleichen Töne spielen“, erinnert er sich an den langwierigen Entstehungsprozess. „Das war mir geradezu peinlich. Heute gibt es für so etwas glücklicherweise Sequencer.“ Es sei die Herausforderung bei den Neueinspielungen gewesen, der bestehenden Struktur der Songs neues Leben einzuhauchen, sagt er: „Mir liegen vor allem Subtilitäten am Herzen, auch wenn ich weiß, dass es dem Publikum vermutlich anders geht. Ich bin mir sicher, dass einige Leute beim ersten Hören des neuen Albums enttäuscht sein werden, aber dann wird ihnen hoffentlich bewusst, dass sich Genesis über die Jahre auch stark verändert haben.“
Bevor sich der nimmermüde Musiker wieder neuen Songs widmet und all die Gefallen zurückzahlt, die er nach den Aufnahmen seines aktuellen Werks schuldig ist – „Ich habe allen Mitwirkenden angeboten, sie zu bezahlen, aber die meisten waren eher daran interessiert, dass ich im Gegenzug auf ihren Platten mitspiele“, erzählt er lachend –, will Hackett GENESIS REVISITED II nächstes Jahr auf die Bühne bringen. „Wir sind gerade in Verhandlungen, diese Songs in einem völlig neuen Kontext zu präsentieren“, verrät er. „Es wird Visuals geben und das Ganze wird eher eine Aufführung als eine geradlinige Performance sein. Ich freue mich unglaublich auf diese Tour. Es fühlt sich ein wenig wie Weihnachten an. Ich warte auf meine Spielsachen und kann kaum noch schlafen!“ Wie gut, dass er eh gerne mit den Hühnern aufsteht!