Die Ideen für den Nachfolger zum Monumentalwerk THE DARK SIDE OF THE MOON waren ihnen ausgegangen – doch am Ende lieferten sie einen der prägendsten Floyd-Songs überhaupt ab.
Eines Tages im Sommer 2011 fuhr David Gilmour durch den Stadtteil King’s Cross in London, als er beschloss, nach den Unit Studios zu suchen. Hier war ihm im Januar 1974 jene Gitarrenfigur aus vier Noten zugeflogen, die ›Shine On You Crazy Diamond‹ zündete. Er konnte sich nicht mehr an die genaue Adresse erinnern, wusste aber noch, dass der winzige Proberaum in einer kleinen Gasse lag und „ein totales Drecksloch“ war. Doch der Laden existierte schon lange nicht mehr. Aus jener so wenig vielversprechenden Umgebung war ein Stück entsprungen, das den Anfang und das Ende des 1975er Albums WISH YOU WERE HERE bildete und Pink Floyd bis heute definiert. Es wurde nie als Single veröffentlicht und erstreckt sich in neun Teilen über 26 Minuten, doch ›Shine On You Crazy Diamond‹ ist zweifellos ihr größter (Nicht-)Hit. 1974 war die Band noch völlig überwältigt vom Erfolg von THE DARK SIDE OF THE MOON aus dem Vorjahr, das sie von einem Kult-Act an die Spitze der US-Charts katapultiert hatte. Und keiner von ihnen wusste, was sie als Nächstes tun sollten.
Stattdessen absolvierten sie diverse kleinere Tourneen, während sie versuchten, den Nachfolger zu schreiben. Das erwies sich als große Herausforderung, und es gab mehr als einen Fehlstart. Im Dezember 1973 nahmen sie die Arbeit an dem Projekt „Household Objects“ wieder auf, das sie drei Jahre zuvor begonnen hatten. Sie verbrachten acht Wochen in den Abbey Road Studios in London, wo sie ohne konventionelle Instrumente Musik machten. Sie erschufen eine Basslinie, indem sie ein über eine Streichholzschachtel gespanntes Gummiband „spielten“, erzeugten einen Beat mit einer Axt auf einem Holzblock …
„Ich denke, das war eine Verzögerungstaktik, weil wir einfach nicht wussten, was wir sonst tun sollten“, gestand Schlagzeuger Nick Mason. An Weihnachten hatten sie die Idee wieder aufgegeben, behielten jedoch einen Klang bei: die Note, die entstand, als jemand mit dem Finger am Rand eines gefüllten Weinglases entlang fuhr. Und daraus wurde das erste Geräusch, das man auf ›Shine On You Crazy Diamond‹ hört. Unterdessen begannen Pink Floyd die Arbeit in den Unit Studios. Ende Januar hatten sie dann drei provisorische
Fassungen neuer Songs im Kasten: ›Raving And Drooling‹, ›You Gotta Be Crazy‹ und ›Shine On You Crazy Diamond‹.
Roger Waters’ Desillusionierung mit der Musikindustrie hatte die beiden Ersteren inspiriert. „Oh, seht mal, wir sind reich“, sagte er. „Wir haben das erreicht, was wir erreichen wollten. Und was tun wir jetzt?“ Doch es war eindeutig, um wen es in ›Shine On You Crazy Diamond‹ ging. Der „seer of visions … you painter, you piper, you prisoner“ war Floyd-Mitbegründer Syd Barrett, der nach psychischen Problemen 1968 die Band verlassen hatte. „Ich weiß noch, dass ich sehr traurig über Syd war“, sagte Waters. „Und da waren auch Schuldgefühle.“ Während Floyd reich, gefeiert und berühmt wurden, hatte der Einsiedler Barrett seiner Musikkarriere den Rücken gekehrt und lebte allein in einer kokonartigen Wohnung in Chelsea, West-London.
Floyd gingen im Juni 1974 wieder auf Tour und stellten dabei eine frühe Version von ›Shine On‹ vor, die sie „Sydney Barrett“ widmeten. Der Song beschrieb eine Band an der Schwelle zum großen Ruhm, forderte aber auch ihren alten Freund und einstigen Kollegen auf, aus seinem Versteck zu kommen und der Welt zu zeigen, wozu er fähig war. Doch die Arbeit ging immer noch schleppend voran, als die Aufnahmen zum neuen Album bei Abbey Road fortgesetzt wurden. „Keiner von uns fühlte sich besonders inspiriert“, sagte Mason, der sich an Tage erinnerte, an denen sie lustlos mit einem Luftgewehr auf ein Dartbrett feuerten und darauf warteten, dass ihnen etwas Brauchbares einfiel. Waters beschloss schließlich, ›Raving And Drooling‹ und ›You Gotta Be Crazy‹ zu verwerfen, und schlug vor, ›Shine On You Crazy Diamond‹ in den Opener und das abschließende Stück des Albums zu verwandeln.
Derweil begann Waters, Material zu schreiben, das die Lücke dazwischen füllen sollte. Allmählich kristallisierte sich dabei ein Thema heraus: Abwesenheit. Die Abwesenheit von Syd Barrett, von Inspiration in der Band und – da sowohl Waters und Mason bald darauf geschieden wurden – von Ehefrauen und Beziehungen. Floyds Hommage an Barrett entfaltete sich langsam und ließ sich Zeit, um eine Atmosphäre aufzubauen. Und auch als ein so langer Song von einer Band, die allgemein als Progressive-Rock-Act betrachtet wurde, war ›Shine On‹ tief im Blues verwurzelt. Der Block aus Part 1–5 entwickelte sich von einer unheilvollen, filmreifen Ouvertüre zu einer Hymne auf Syd und dann zu einem gemächlichen, jazzigen Finale. Auf der zweiten Seite der Original-LP gab es die Fortsetzung. Der Block aus Part 6–9 wurde, wie in den Autorencredits festgehalten, von Richard Wrights Minimoog-Synthesizer, Hammondorgel und Streicher-Synthesizer dominiert.
Wright, der 2008 verstarb, nannte ›Shine On‹ und WISH YOU WERE HERE oft als sein Lieblingsstück respektive
-album von Pink Floyd. In einem Moment, der eines Hollywood-Blockbusters würdig gewesen wäre, erschien Syd Barrett am 5. Juni 1975 plötzlich unangekündigt bei Abbey Road, als Floyd sich eine Aufnahme des Songs anhörten. „Zunächst dachten wir, er sei ein Angestellter des Studios“, so Mason. „Nie- mand erkannte ihn.“ Der schlanke, elfenhafte Syd von 1967 war längst Vergangenheit. Er hatte sich den Kopf und die Augenbrauen rasiert, war stark übergewichtig und umklammerte eine Plastiktüte. Augenzeugen berichten, er habe gefragt, wann es Zeit für ihn sei, Gitarre zu spielen, während sich andere daran erinnern, wie er wild auf und ab sprang, während er sich die Zähne putzte. Waters und Wright waren angeblich beide zu Tränen gerührt.
„Sydney Barrett“ wehte so schnell wieder aus dem Leben von Pink Floyd wie er gekommen war. Keiner von ihnen sah ihn jemals wieder. Ihre Hommage an ihn wurde unterdessen zur tragenden Säule von WISH YOU WERE HERE, einem Album, das trotz Waters’ Frust die Position von Pink Floyd als eine der größten Bands des Planeten nur noch festigte. ›Shine On You Crazy Diamond‹ bleibt die Essenz von Pink Floyd in den 70ern: eine fesselnde Mischung aus unterkühlter Zurückhaltung, roher Emotion und Nostalgie. Bei 12:07 Minuten in der zweiten Hälfte blitzt kurzzeitig das Outro von ›See Emily Play‹, Barretts größtem Floyd-Hit, durch den Mix und verschwindet dann im Nebel – ganz wie Syd selbst. Ein äußerst passendes Ende für diesen legendären Song.
Toll toller , das o.g. Album!!!