Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Romantik ist noch nicht tot. Es mag da draußen noch genug Liebe für das Albumformat geben, um sich der Marktlogik in den Weg zu stellen. Künstler verteidigen es nach wie vor. „Wird das Album überleben?“, fragt Tony Visconti, der berühmte Produzent von David Bowie und so vieler Albumklassiker. „Wer entscheidet das – die Industrie oder der Künstler? Die Kamera hat Maler nicht arbeitslos gemacht. Das Album überlebt. Es wird immer eine Option bleiben.“
Steven Wilson stimmt ihm zu: „Zu sagen, das Album werde verschwinden, ist wie zu sagen, dass Romanautoren ab sofort nur noch Kurzgeschichten schreiben und Regisseure nur noch Popvideos drehen werden. Das Langformat und das Konzept eines sich schrittweise entfaltenden musikalischen Erlebnisses erlaubt ein größeres Wechselspiel der Dynamik, der Stimmungen und Emotionen. Manchmal nur dadurch, in welcher Reihenfolge die Stücke laufen. Im Fall von Progressive oder Artrock war die Idee, den Hörer über 45 Minuten auf eine musikalische Reise mitzunehmen, schon immer die primäre Ausdrucksform, aber viele große Pop- oder Rockalben verfügen ebenfalls über dieses Gespür für ‚Architektur‘, das man in einem wunderschön konstruierten Film oder Roman findet. Das Album wird als Format vielleicht weniger dominant sein, aber ich denke, es wird als künstlerische Option für sowohl diejenigen, die Musik machen, als auch die, die sie anhören, immer die Oberhand behalten.“
Es gab mal eine Zeit, in der wir, die Hörer, uns gar nicht vorstellen konnten, dass wir nicht die ganze Geschichte des Künstlers hören wollten – den ganzen Film, nicht nur den Trailer. Präferenzen ändern sich, aber diese Liebe zum Album ist in vielen von uns verwurzelt. Von ABBEY ROAD über ELECTRIC LADYLAND und DIAMOND DOGS oder TUBULAR BELLS bis zu MARQUEE MOON und OK COMPUTER gingen wir auf die gesamte Reise, nicht nur ein paar Haltestellen. Kann das Album – als erzählerische, immersive und sinnliche Erfahrung – die Flutwelle des Digitalismus überleben?
Simon Raymonde ist sowohl Künstler (als einstiger Cocteau Twin und jetziges Mitglied von Snowbird) als auch Business-Weiser in seiner Funktion als Chef des Labels Bella Union (der Heimat von Erfolgsstorys wie John Grant und Fleet Foxes). „Das Album ist noch lange nicht tot“, sagt er. „Die Musikindustrie setzt sich immer mit Veränderungen auseinander. Und jetzt, wo die Nachfrage von Bloggern nach neuem Material – stündlich, nicht nur täglich – wächst, kann uns das in eine Welt drängen, in der wir vielleicht nicht leben wollen. Diese ‚Track-Welt‘, in die wir uns angeblich bewegen, ist schwach. Das Modell funktioniert noch nicht… Das Albumformat war nie stärker, denn Bands schreiben in einer ähnlichen Weise, in der Regisseure Filme drehen. Sie wollen eine Geschichte erzählen, eine Vielfalt an Gefühlen und Ausdrücken im Laufe einer Platte erzeugen, die nicht in einem einzelnen Track dargestellt werden kann. Und so war das immer schon. Ein lukrativer Song, meistens einer, der in einem Werbespot verwendet wird, kann ein gutes Einkommen sichern. Aber ich bin noch keinem Künstler begegnet, der kein Album machen wollte. Sogar die Flaming Lips, die sich nach 30 Jahren etwas ermüdet vom ewigen Album-Tour-Album-Tour-Zyklus fühlten, machten mal ein Jahr Pause, stellten einfach einen Haufen Stücke ins Internet und hatten wieder Spaß. Aber nach einem Jahr war das schon nicht mehr so aufregend und dieser Trieb, ein richtiges Gesamtwerk zu erschaffen, das Verlangen, Ideen und Klänge mit über einer Stunde Laufzeit zu entwickeln, kam zurück. Ich glaube nicht, dass das so schnell verschwinden wird. Einer Band eine frisch gepresste LP ihrer neuen Platte zu überreichen, ist etwas, dessen ich nie überdrüssig werde. Wenn ich ihnen eine wav-Datei eines neuen Tracks schicke, den wir online stellen wollen, gibt es da nicht diese spürbare Freude. Bei den Flaming Lips war diese Freude sehr deutlich, als wir ihr Album THE TERROR pressten. Als sie dieses Jahr nach London kamen, um im Roundhouse zu spielen, waren sie sichtbar glücklich darüber, es zu sehen und in der Hand zu halten.“
Das Album sagt nach wie vor: sieh mich, spür mich. Wir werden weiterhin den Berg besteigen, um die Geschichte zu hören. Haben wir schon die komplette Reise von ›Speak To Me‹ bis ›Eclipse‹ hinter uns? Noch lange nicht.
Rock in der Krise (Teil 4): Der Tod des Albums
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