Phantastischer Ausflug in die Steinzeit der Rockmusik
Als sich die Rolling Stones im Dezember 2015 in Mark Knopflers British Grove Studios in London trafen, um an neuen Songs zu arbeiten, geschah Unerwartetes: Statt noch einmal den Generalangriff auf die Popcharts auszuhecken, besannen sich die Veteranen auf ihre Wurzeln – nach drei Tagen war ein rundes Dutzend mehr oder weniger obskurer Originale des Chicago Blues eingespielt. Darunter Sachen von Willie Dixon, Little Walter, Howlin’ Wolf, Eddie Taylor, Jimmy Reed und Memphis Slim plus Hinterlassenschaften weniger bekannter Männer wie Magic Sam, Otis „Lightnin’ Slim“ Hicks und Little Johnny Taylor.
Soweit, so unspektakulär. Eigentlich. Denn dass die Stones vor mehr als einem halben Jahrhundert als Blues-Coverband angefangen haben, dürften auch Leute wissen, die sich mit ihrer Geschichte nur oberflächlich befasst haben. Insofern also eine gewöhnliche Reise zurück zu den Anfängen. Zumal sich die Band bei ihren Versionen kaum von den Arrangements der Originale entfernte. Das eigentlich Sensationelle an BLUE & LONESOME aber ist, ohne auf einzelne Tracks einzugehen, etwas, das Charlie Watts kürzlich so formulierte: „Es gibt haufenweise Leute, die den Blues spielen. Allerdings sind das überwiegend weiße Männer mit einer Vorliebe für endlose Gitarrensoli. Das entspricht nicht unbedingt unserem Verständnis von Blues.“ Wohl wahr, auf BLUE & LONESOME verweigern die Stones (trotz zweier Gastauftritte von Eric Clapton) die in diesem Genre übliche Kunstfertigkeit, stattdessen rumpelt und scheppert es, dass es eine wahre Wonne ist und kein bisschen anders klingt als 1964. Aufgenommen wurde live in einem Saal mit natürlichem Raumhall und auf Overdubs weitgehend verzichtet. Das Ergebnis ist demzufolge der pure Stoff: kompakt-kraftvolle Grooves, klar und doch vielschichtig, uneitel-anarchische Gitarrenriffs und eine glühend heiße Harp, die Mick Jagger als Meister seines Fachs ausweist. Überhaupt Jagger: Lange nicht klang er so bei sich wie hier.
BLUE & LONESOME präsentiert eine Band, die den Blues so spielt, wie es kaum noch eine andere beherrscht. Ganz nebenbei rehablilitiert sie das Genre mit diesem asketischen Spektakel als songorientierten Stil, der den Bonamassas dieser Welt viel zu lange als Vehikel für musikantische Eitelkeiten dienen musste. Mit diesem phantastischen Ausflug in die Steinzeit (sic!) der Rockmusik also wäre die Geschichte der Rolling Stones aufs Natürlichste auserzählt – wären da nicht noch die halbfertigen neuen Tracks, die sie für diese Session hatten liegen lassen…
Bewertung: außer Konkurrenz
The Rolling Stones
BLUE & LONESOME
POLYDOR/UNIVERSAL
Hört hier die beiden Singles ›Hate To See You Go‹ und ›Ride ‚Em On Down‹ …