1999 hatte Stanley die Hälfte seines Engagements als das Phantom der Oper absolviert, als eine Zuschauerin mit ihm in Kontakt trat. Sie arbeitete für eine kanadische Organisation namens AboutFace, die Kinder mit Missbildungen im Gesicht unterstützte. Ohne es tatsächlich zu wissen, spürte sie intuitiv, dass das Phantom mehr als nur eine Rolle für ihn war. Als sich die beiden trafen, gestand er, dass er auch an einer solchen traumatischen Entstellung litt. Am Ende ihres Treffens hatte er sich bereit erklärt, als prominenter Sprecher der Organisation aufzutreten. Heute hilft er, Spenden zu sammeln und besucht Schulen, wo er mit potenziellen Hänslern und Pausenhoftyrannen über Klassenkameraden spricht, die eine ähnliche Behinderung haben könnten. Und mit dieser Aufgabe konnten sein eigener Heilungsprozess und der Weg zur Akzeptanz seiner selbst erst richtig beginnen.
„Da wurde mir klar, dass ich das Phantom war“, sagt er ernst. „Ich war dazu geboren, es zu spielen. Es war die Geschichte eines verwundeten, entstellten Musikers, der sich hinter einer Maske versteckte. Mir war nicht mal bewusst, dass mich diese Rolle deswegen so anzog. Als ich es endlich kapierte, war das ein riesiger Wendepunkt für mich. Mein gesamtes Leben veränderte sich daraufhin zum Besseren.“
Nicht dass man sich bei Paul Stanley je sicher sein kann. Er gibt sonst nur wenig von sich preis und lässt sich nicht gerne in die Karten blicken. Es wäre nicht falsch, zu sagen, dass er noch immer eine Maske trägt, sie ist mittlerweile nur unsichtbar geworden. Er ist vorsichtig, höflich, redet leise und artikuliert, gibt sich nett und warmherzig. Fast freundlich, aber nur fast. Für ihn ist ein Interview eine weitere Performance. Aber vielleicht war das schon immer so. Ich war nur zu geblendet davon, eine Gefreite der Kiss Army zu sein, um es zu bemerken. Zu gelähmt von der Nervosität, als ich damals zur Band auf die Bühne durfte, der Ursprung meiner Durchbruchs-Story „I Dreamed I Was Onstage With KISS In My Maidenform Bra“. Und schließlich war er es, der mir zeigte, wie ich meine rote Gitarre „tief und sexy“ halten sollte.
In meinem Kopf schreie ich: „Wo ist der Typ, der sein Publikum in einen orgiastischen Wahn aufpeitschte, es provozierte und herausforderte, verlangte, dass man ‚Rock‘n‘Roll‘ ausspreche, als würde das eigene Leben davon abhängen, weil klar war, dass das für ihn wirklich so war?“ Dann würde er seine dünnen, lederbestiefelten Beine über den Bühnenrand hängen, gerade außer Reichweite der nach ihm greifenden Menge, mit dem Arsch wackeln und wieder von ihr wegtanzen. Später erklärte er: „Ich werfe mich dem Publikum entgegen, um zu sehen, ob es mich haben will.“
Heute kennt er die Antwort. Und das veränderte ihn. Auf der Bühne ist er überschwänglich und entfesselt. In seinem übertriebenen New Yorker Akzent und in einer viel höheren Tonlage als seiner natürlichen Sprechstimme fragt er, ein lebenslänglicher Abstinenzler: „Wie viele von euch sind gerne high?“ und dehnt die letzte Silbe so lange, bis ein Schrei aus ihr wird. Oder er stichelt: „Wie viele von euch Mädels lassen sich gerne lecken?“ Oder er brüllt laut, um dann zu sagen: „Ich hab da so ein Gefühl, Leute! Wenn ihr euch alle ein bisschen locker macht, werden wir diesen Laden so aufheizen, dass wir … sicher das ‚Firehouse‘ anrufen müssen!“
Abseits der Bühne ist er so ziemlich das genaue Gegenteil dieser Figur. Er ist ein komplett anderer Mensch. Aufrichtig. Ernst. Sehr ernst. War es die Schminke, die ihm den Wandel von Jekyll zu Hyde ermöglichte? „Nein“, antwortet er bestimmt. „In den Jahren ohne Make-up [1983-1996] funktionierte das genauso gut für mich. Ich fand diese Zeit sogar sehr befriedigend, denn ich hatte die Chance, ungeschminkt da draußen zu stehen, wonach ich damals ein großes Verlangen hatte. Ich denke, das war für mich sogar am einfachsten, weil meine Figur nicht wirklich vom Make-up definiert, sondern nur dadurch geschönt wurde. Für mich unterstrich es einfach nur, was man sah und wer ich war. Trotzdem war der Tag, an dem wir vor der Reunion-Tour zum ersten Mal wieder die Schminke auftrugen, wie verzaubert. In den Spiegel zu sehen und wieder dieses Gesicht zu erblicken, gab mir sehr viel Kraft.“
Könnte man also sagen, dass er Starchild und Paul Stanley vereint hat? „Ja, total“, sagt er und nickt. Doch lange Zeit waren das zwei völlig verschiedene Personen? „Oh ja. Deswegen gibt es bis heute viele Bands und Künstler, die nicht nach Hause kommen wollen, denn sie haben kein Zuhause und brauchen diese Anbetung der Massen.“ Und wie sieht das bei ihm aus? Starchild braucht die Aufmerksamkeit, aber Paul Stanley braucht sie nicht mehr? „Das ist nicht wirklich das, was ich meinte“, sagt er steif, steht auf und glättet einen der raumhohen Vorhänge. „In mancher Hinsicht ist es leichter, mit der Aufmerksamkeit zu leben, die man bekommt, wenn man ständig auf der Bühne steht, als seinen Scheiß auf die Reihe zu kriegen und sein Leben zu ordnen. Wenn man das aber geschafft hat, macht das auch alles andere besser. Solange du auf der Bühne bist, ist alles reine Magie. Doch der Unterschied zwischen dieser Zeit und dem Rest ist das Problem. Ich sehe also andere Bands und weiß, warum sie auf Tour sind – weil sie es nicht aushalten, zuhause zu sein. Es ist viel besser, das eine mit dem anderen aufzuwerten.“
Heutzutage hat Stanley nicht mehr so oft das Verlangen, auf Tour zu gehen. Und wenn er es doch tut, sorgt er dafür, dass er seine Brut mitnehmen kann, außer Evan, der in New York lebt und seine eigene Band The Dives hat. Nach dem Debakel der 2000er-Farewell Tour mit den Originalmitgliedern besteht laut Paul so gut wie keine Chance, dass die Band jemals wieder in der Urbesetzung zusammenkommt, auch wenn er letztes Jahr in Ace Frehleys Video zu dessen Free-Cover-Version ›Fire And Water‹ von seinem Covers-Album ORIGINS VOL. 1 zu sehen war.
Interessante Site, tolle Geschichten!
Sehr schönes Interview. Spricht mich sehr an.