Die Manic Street Preachers sind legendär für ihre bittersüßen Hymnen, jetzt legen sie ein melancholisches Album vor, das den Verlust von Idealen und geliebten Menschen betrauert.
Nicky Wire ist ein Typ mit vielen Interessen. Der Vater zweier Kinder hat ein Politikstudium an der Universität Swansea abgeschlossen, er spielte in der walisischen Fußballjugendnationalmannschaft und brachte es bis zum Probetraining bei Tottenham Hotspurs und Arsenal. Daneben ist der Bassist, Texter und Gelegenheitssänger glühender Popfan, der Musikzeitschriften verschlingt und gelegentlich gleichnishaft Ikonen wie Ramones, Iggy Pop, Sex Pistols und Clash heranzieht, um seine Standpunkte zu verdeutlichen.
Als sich die Manic Street Preachers 1986 gründeten, waren die Waliser eine sehr politische Band. „Wir wuchsen in einer grimmigen Ära auf, Thatcher war an der Regierung, wir wohnten in Süd-Wales, wo die Bergarbeiter lebten, es gab viele Streiks und große Arbeitslosigkeit. Eine vormals stolze Gemeinschaft wurde vom Thatcherismus zerstört“, sagt Wire bitter. „Politik interessiert mich bis zu diesem Tage. Das schlägt sich natürlich in den Texten nieder.“ Inzwischen sind ihm allerdings Zweifel gekommen. „Ich bin nicht mehr sicher, ob Politik und Rock‘n‘Roll zusammenpassen. Jetzt bin ich 44 Jahre alt, wir bringen unser elftes Studioalbum heraus und sind immer noch motiviert, über Situationen um uns herum zu schreiben, aber du fragst dich, ist das noch relevant?“ rätselt er. „Wir fühlen uns mit dem Politikinteresse ziemlich isoliert, neben uns gibt es nur noch Billy Bragg.“ Lachend erinnert er sich an eine Woche, in der die Manics Kylie Minogue, den linken Bergarbeiterführer Arthur Scargill und Fidel Castro trafen, „ein verrückter Mix aus Pop und Kommunismus“. Inzwischen sei er sicher, dass der Marxismus die Welt nicht retten könne, überhaupt sei er „Existentialist, für den Camus und Sartre wichtiger sind als Marx und Lenin.“
Wir sitzen in der Lobby eines zentralen Berliner Nobelhotels, unweit der Hansa Studios, wo ein Teil der Titel des neuen Album REWIND THE FILM aufgenommen wurde. „Es ist ein trauriges Album, abgesehen von ›Show Me The Wonder‹ handelt es von Sterblichkeit. Es steht für das zweite Leben der Manics“, fasst Nicky zusammen. Generell zweifle er am Sinn und Zweck des Musikerdaseins. „Das durchgängige Thema ist der Verlust von Leben und Idealen.“ Natürlich spielt Wire damit auch auf den Selbstmord ihres Gitarristen Richey Edwards an, dazu sind eine Menge liebenswerter Freunde und Verwandte gestorben.
Für die dunklen Lieder wählten die Manics in der Hauptsache akustische Instrumente, in den Hansa Studios wurden u.a. Cello-Parts aufgenommen. „Wir lieben Springsteens NEBRASKA und die Lieder von Leonard Cohen aus den Siebzigern.“ ›Your Sullen Welsh Heart‹ ist so ein trauriger Song. „Die Idee dahinter ist: Ich habe ein gutes Herz und ein schlechtes Herz, beide Seiten kämpfen andauernd. Die eine Person ist würdig und gut, aber ich bin auch der 22-Jährige, der keinen Sex hat und weltweit Amok läuft. Er ist frech, denn wenn du jung bist, trägst du keine Verantwortung.“
Daneben enthält REWIND THE FILM Soul, beeinflusst von Van Morrison und Dexy‘s Midnight Runners sowie Lieder im Stil von Singer/Songwritern. Den Titelsong singt Richard Hawley, ein guter Freund von Gitarrist James Dean Bradfield. Dagegen ist ›30 Year War‹ ein Vorgeschmack aufs kommende Werk, das rockiger und kämpferischer ausfallen wird, wie Wire ankündigt. „Song und Text sind viel wütender. In den letzten dreißig Jahren wurde die Arbeiterklasse zerstört. Seither gibt es keine vereinte Opposition zu irgendeinem Thema. Wir haben eine virtuelle, digitale Scheindemokratie, Demokratie existiert nicht“, lautet seine Anklage. „Großbritannien ist ein extremes Beispiel von postmodernem Kapitalismus. Ich hoffe, der Rest der Welt wird dem widerstehen, aber es sieht nicht so aus…“
Henning Richter