Mal ehrlich: Was wisst ihr über Lou Reed? Dass er Gründungsmitglied der Velvet Underground war? Dass er als nicht besonders kommunikativ galt? Oder dass er geniale Stücke wie ›Walk On The Wild Side‹ und ›Perfect Day‹ geschrieben hat? Dann liegt ihr bereits über dem Durchschnitt. Denn der Mann, der Ende Oktober auf Long Island gestorben ist, war vor allem eins: der große
Text: Marcel Anders
Es ist eine Begegnung der etwas anderen Art: Am 30. März 1998 empfängt Lou Reed im Hamburger Hyatt Hotel. Anlass: Sein Live-Album PERFECT NIGHT, das mit der Grammy-prämierten Doku AMERICAN MASTERS: ROCK ́N ́ROLL HEART von Timothy Greenfield-Sanders einhergeht. Eine 73-minütige Lobeshymne auf das epochale Schaffen des Underground-Poeten Reed, das – natürlich – ohne ein einziges kritisches Wort auskommt. Dabei hat der zu diesem Zeitpunkt 56-Jährige sein ganzes Leben lang nichts anderes getan als bewusst zu polarisieren. Was sich auch in einem zähen Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen fortsetzt, der ihn bis zu diesem Tag als Institution verehrt hat. Doch ein abweisender, zynischer älterer Herr mit verspiegelter Sonnenbrille ist nun wirklich kein Sympathieträger. Hier eine kleine Kostprobe:
Darf ich Sie Lou nennen, oder bestehen Sie auf Mr. Reed?
Ich bestehe auf gar nichts.
Das heißt?
Mach, was du willst.
Was ist das für ein Gefühl, vom Kultur-Establishment gefeiert zu werden? Stößt Ihnen ROCK’N’ROLL HEART nicht auf? Ist es nicht das, wogegen Sie immer rebelliert haben?
Ich bin eigentlich ganz glücklich damit. Hast du die Doku gesehen?
Sonst würde ich nicht fragen… Darin findet sich nicht ein kritisches Wort. Dabei haben Sie sich über die Jahre wenig Freunde gemacht.
Wärst du glücklicher, wenn das Ganze negativer wäre?
Das ist nicht der Punkt. Es ist einfach eine Lobeshymne, die sich an haltlosen Komplimenten vergeht.
Und damit hast du ein Problem? Also ich finde das nicht schlimm – im Gegenteil: Ich habe nie viele Komplimente bekommen.
Eine zentrale Aussage ist zum Beispiel, dass Sie nie Ihre Integrität verloren haben. Ganz im Gegensatz zu vielen Kollegen. Woran machen Sie das fest?
Da zitierst du nicht mich, sondern jemand anderen. Insofern kannst du mich auch nicht so fragen, als ob ich das gesagt hätte.
Sind Sie denn nicht der Meinung, dass Sie sich immer treu geblieben sind – über mittlerweile vier Dekaden?
(überlegt) Yeah, eigentlich doch…
So geht das 20 Minuten. Ein zäher Talk, immer an der Grenze zum Abbruch, der dann auch ohne Verabschiedung endet. Die Ironie: Er begleitet den angefressenen Schreiberling per Aufzug zur Lobby – und erzählt in diesen wenigen Minuten mehr Privates als beim offiziellen Termin. Er würde sich schon seit Jahren Makrobiotisch ernähren und wäre wirklich gerne in Deutschland, weil die Menschen so offenherzig seien. Ein Schlag ins Gesicht, von dem ich wenige Tage später der bezaubernden Tina Weymouth (Ex-Talking Heads, Tom Tom Club) erzähle. Worauf sie nur mit dem Kopf schüttelt: „Lou kann ein solches Arschloch sein. Was aber an seiner Kindheit liegt – er hatte es definitiv nicht leicht. Das lässt er bis heute an wildfremden Menschen aus.“
Die Leiden des jungen L.
Womit sie den Nagel auf den Kopf trifft. Denn Lewis Allan Reed, Sohn eines jüdischen Buchhalters aus Freeport, Long Island, hat es in seiner Jugend alles andere als leicht. Sein Vater hat kein Verständnis dafür, dass sich sein Spross für Rock’n’Roll, fürs Gitarrespielen und für beides – Jungen wie Mädchen – interessiert. Weshalb er ihn mit 14 per Elektroschocktherapie kurieren will, die als Heilmethode gegen Homosexualität eingesetzt wird. Eine schmerzhafte Prozedur, die Lou ein echtes Trauma beschert: „Sie befestigen Elektroden an deinem Kopf und schieben dir einen Stab in den Mund, der verhindert, dass du deine Zunge verschluckst. Der Effekt ist, dass du regelrecht frittiert wirst und dein Erinnerungsvermögen verlierst. Wenn du später ein Buch liest, kannst du bei Seite 17 noch mal von vorne beginnen, weil du den Anfang längst vergessen hast.“
Do the ostrich!
Was ihn nicht daran hindert, ab 1960 Journalismus an der Universität von Syracuse zu studieren und anschließend nach New York zu ziehen, um in die Beatnik-Szene einzutauchen. Deren Manifest – Ginsbergs „Howl“ – ist ihm eine echte Offenbarung: „Es ist ein wunderbares Gedicht, das die Stimmung der Zeit einfängt. Das Ganze ist so frontal und kalt. Es verkörpert eine antiautoritäre Einstellung, mit der sich viele Leute identifizieren können.“ Finanziell hält er sich als Songwriter für Pickwick Records über Wasser. Ein Label, das sich auf Neueinspielungen bekannter Popsongs von unbekannten Musikern spezialisiert – die dem Original täuschend ähnlich klingen. Seltsamerweise gelingt Reed in diesem Umfeld sein erster Hit: ›The Ostrich‹ ist eine Parodie auf die Teen-Bopper der frühen 60er und führt zur Gründung von The Primitives – einer kurzlebigen Band, die u.a. den walisischen Multiinstrumentalisten John Cale umfasst. Der ist gerade in den Big Apple gezogen, um Musik zu studieren, und hat mit Reed von Anfang an Probleme: „Er schien extrem verletzlich, hatte aber gleichzeitig einen ausgeprägten Drang, alles und jeden zu attackieren. Was wohl daran lag, dass diese psychologisch gestörte Persönlichkeit verbittert darum gekämpft hat, sich irgendwie künstlerisch auszudrücken. Was durch die Konfusion zwischen ihm und seiner Umgebung eingeschränkt wurde.“
Velvet Revolution
Dennoch ziehen die beiden zusammen, bilden ein Songwriterduo, verstärken sich mit Drummerin Maureen Tucker nebst Gitarrist Sterling Morrison und gründen The Velvet Underground. Eine der wichtigsten Bands der Rockgeschichte. Und das, obwohl ihre Alben wie THE VELVET UNDERGROUND & NICO (1967), WHITE LIGHT/WHITE HEAT (1968) oder THE VELVET UNDERGROUND (1969) keinen kommerziellen Erfolg haben, wohl aber umso mehr Nachhaltigkeit. Produziert und gemanagt von Impresario Andy Warhol avancieren Reed & Co. zum Inbegriff der New Yorker Coolness. Ihr Markenzeichen: Schwarzes Leder, dunkle Sonnenbrillen, ein monoton-hypnotischer Underground Rock und Texte über sexuelle perversionen – der Stoff, der Generationen von Musikern beeinflusst und die Velvets zur Keimzelle der modernen Subkultur macht. Leider ist die Band nicht sonderlich stabil: Das deutsche Model Nico, dessen Grabesstimme den Charme des Debüts ausmacht, verlässt das Kollektiv nach stürmischen Affären mit beiden — Reed wie Cale. Als nächstes wird Warhol gefeuert, dann Cale, und anschließend steigt Reed aus.
Goin’ solo
Um sich zunächst komplett aus dem Musikgeschäft zu verabschieden. Er arbeitet im Büro seines Vaters, verdient 40 Dollar die Woche und schreibt nur selten Songs. Bis er sich 1971 zu einer Solo-Karriere entscheidet. Doch obwohl er für die Aufnahmen nach England fliegt, namhafte Sessionmusiker wie Steve Howe und Rick Wakeman (Yes) engagiert und nicht weniger als acht unveröffentlichte Velvet-Songs verwendet, wird LOU REED ein Flop. Was seinen Schöpfer mehr trifft, als er zugibt, und seine Aversion gegen Kritiker, Radio-DJs, Plattenfirmen wie Manager begründet. Dabei reagiert er zunächst goldrichtig. Für TRANSFORMER, das im Dezember 1972 erscheint, greift er – wie Iggy Pop und Mott The Hoople – auf die Hilfe von David Bowie und seinem Gitarristen Mick Ronson zurück. Eine Rechnung, die voll aufgeht. In Großbritannien schwimmt das Werk auf der Glam-Welle und erreicht Platz 13 der Albumcharts, in den USA stößt es bis auf Platz 29 vor – der größte Erfolg seiner Karriere. Dabei kommen auch hier vier Velvet-Demos zum Einsatz und – neben Junkies, Prostituierten und Transvestiten – sind die Texte vor allem von Andy Warhol und seiner berühmten Factory dominiert. Am offenkundigsten in – Walk on the Wild Side – das zu Reeds bekanntestem Song wird – dicht gefolgt von -Perfect Day- und -Satelite of Love-
Die Verweigerung
Reed ist nun genau da, wo er immer sein wollte: Auf dem Olymp des Rock´n´Roll. Und doch kann er es nicht genießen, weil er sich unter enormen Druck wähnt. Eben, als müsse er das Erreichte immer wiederholen, wenn nicht übertreffen. Was zunächst zum Bruch mit Bowie führt, und anschließend wu zwei Alben, die deutlich dunkler ausfallen, einerseits BERLIN (1973), eine Rock-Oper über ein Junkie-Pärchen im Westen der Mauerstadt, das von der Presse als „Disaster“ tituliert wird. Andererseits SALLY CAN’T DANCE (1974), das zwar die US-Top 10 knackt (seine höchste Chartplatzierung ever) mit dessen Soundqualität Reed aber nicht zufrieden ist – und das schon vor der Veröffentlichung kund tut. Ganz zum Ärger seiner Plattenfirma, die den kreidebleichen Sonnenbrillen- träger mit den blondierten Haaren drängt, möglichst schnell wieder ins Studio zu gehen. Das tut er auch, allerdings nicht ohne vorher für einen handfesten Skandal zu sorgen. Im australischen Fernsehen fordert er die Zuschauer zum Drogenkonsum auf („weil das mehr Spaß macht als Monopoly spielen“) und verwirrt mit seltsamen Antworten auf nicht minder seltsame Fragen: „Sie singen über Transvestiten und Sadomasochismus. Wie würden sie sich angesichts dieser Stücke selbst beschreiben? – „Was hat das mit mir zu tun?“ – „Kann ich sie dann direkt fragen: Sind sie ein Transvestit oder ein Homosexueller?“ – „Manchmal“ – „Welcher von beiden?“ – „Keine Ahnung. Ist da ein Unterschied?.“
Mission: Krach
Eine Anti-Haltung, die er im Sommer 1975 auf die Spitze treibt: METAL MACHINE MUSIC ist ein Doppelalbum mit atonalem Feedback- Krach, das von verwirrten Hörern zu tausenden retourniert wird und wahlweise ein avantgardistischer Witz oder ein ernsthafter Versuch ist, frühzeitig aus seinem Vertrag mit RCA entlassen zu werden. Die Wahrheit, die Reed nie erörtert, liegt wohl irgendwo dazwischen. Schließlich behauptet er in den Liner Notes das Genre „Heavy Metal“ erfunden und das ultimative Album des Genres vorgelegt zu haben. Das wird lustigerweise später als Geburtsstunde des Industrial- und Noise-Rock verehrt, sorgt aber zunächst für ein Karrieretief, von dem sich Reed so schnell nicht mehr erholt. Trotz der Rückkehr zu konventionellen Songstrukturen liegen seine Werke der späten 70er und frühen 80er wie Blei in den Regalen. Und obwohl ihn die Punk-Szene rund ums CBGB’s zu ihrem geistigen Ziehvater kürt, grenzt er sich – mit Ausnahme von Patti Smith und den Talking Heads – bewusst ab: „Für diesen Mist kann und will ich nicht verantwortlich sein.“ So macht man sich Freunde …..
Die neue Milde
Erst als Reed die Designerin Sylvia Morales heiratet und privat zur Ruhe kommt, verändert sich auch seine Musik. Die Texte werden humorvoller (bestes Beispiel: ›The Original Wrapper‹), sein Gitarrensound wärmer und seine Verkaufszahlen steigen mit NEW SENSATIONS und MISTRIAL wieder deutlich an bzw. bereiten das vor, was man eine echte Renaissance nennt: Mit dem ’89er-Werk NEW YORK, das einen schnörkellosen Rock’n’Roll- Sound aufweist, erlebt der 46-Jährige einen Popularitätsschub ohnegleichen, wird zum ersten Mal seit zwei Dekaden mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet und spielt in den größten Hallen der Welt – bei striktem Rauchverbot, wovon nur er selbst ausgenommen ist. Zudem nutzt er die Beerdigung von Andy Warhol am 1. April 1987, um sich mit Ex-Partner John Cale zu versöhnen und einen Tribut an ihren einstigen Mentor aufzunehmen. Ein Projekt, das 1990 unter dem Titel SONGS FOR DRELLA (Warhols Spitzname) erscheint und Gastauftritte von Moe Tucker und Sterling Morrison birgt. Eine Quasi-Reunion der Velvet Underground, die 1993 wieder gemeinsam auf Tour gehen – als Support von U2s ZOO TV, aber auch einer Reihe von Headlinershows, die so gut laufen, dass Pläne für ein neues Album und eine US-Tour geschmiedet werden. Ehe es dazu kommt, zerstreiten sich Cale/Reed erneut.
Später Glanz
Indessen hat Reed einen kreativen Lauf: Seine Alben MAGIC AND LOSS sowie ECSTASY stehen NEW YORK in Nichts nach, er ist viel unterwegs, tritt als Schauspieler in Erscheinung, nimmt an Lesungen teil, schreibt Musiken für Theaterinszenierungen, versucht sich als Fotograf, vertont Edgar Allan Poe und entwickelt Freundschaften zu Musikerkollegen wie Antony Hegarty, Rufus Wainwright, The Killers und Laurie Anderson. Mit der Multimediakünstlerin ist er sogar seit Mitte der 90er liiert; sie teilen ein Interesse an Buddhismus und T’ai Chi. Was sich auch in Reeds Musik niederschlägt: 2007 veröffentlicht er HUDSON RIVER WIND MEDITATIONS, sein Debüt in Sachen meditative Klänge. Nur um gleichzeitig Metallica bei einem Auftritt im Madison Square Garden zu begleiten. Was zwei Jahre später zu einer außergewöhnlichen Kollaboration führt: LULU, ein 90-minütiges Doppelalbum, das sich auf das gleichnamige Theaterstück von Wedekind bezieht und insgeheim an METAL MACHINE MUSIC II erinnert. Auch, was die Rezeption betrifft. Das Werk erntet vernichtende Kritiken und bleibt umsatztechnisch weit hinter den Erwartungen zurück. Zudem lebt Lou bei den wenigen Interviews, die er im Verbund mit Hetfield und Ulrich gibt, einmal mehr seinen inneren Menschenfeind aus und vergeht sich an großkotzigen Statements: „Dieses Album hat nicht nur das getan, was es tun sollte, sondern es hat dafür gesorgt, dass ich so gut bin, wie noch nie.“ Was er genau so meint, wie er es sagt. Und was den Metallicas übel aufstößt. Gerade James Hetfield wünscht sich inzwischen, er hätte sich nie auf das Projekt eingelassen.
Tod auf Long Island
Nur: Es ist Reeds letztes Album. Obwohl er 2012 erneut auf Tournee geht, ist er gesundheitlich schwer angeschlagen. Kein Wunder bei dem heftigen Alkohol- und Drogenkonsum der 70er, den er mit bissigen Aussagen wie „ich habe meine Heroinsucht mit Whiskey bekämpft“ kommentiert. Folgerichtig muss er sich im Mai 2013 einer Lebertransplantation unterziehen, die zunächst problemlos verläuft. Er fühle sich „stärker denn je“, verkündet der 71-Jährige auf seiner Homepage. Was allerdings nicht lange währt. Im Spätsommer wird er in eine Spezialklinik eingeliefert, doch die Leberzirrhose ist schon zu weit fortgeschritten. Seine letzten Tage verbringt er mit Laurie Anderson auf Long Island. Er stirbt am 27. Oktober – kurz nach seiner täglichen T’ai Chi- Übung. Die Kondolenzbekundungen, die in den nächsten Stunden in diversen sozialen Netzwerken auftauchen, zeigen, welchen Stellenwert Lou Reed unter Kollegen genießt. Und auch die Fachpresse, der erklärte Feind, verliert kein böses Wort. Wahrscheinlich die beste Rache, die man an ihm nehmen kann – er wird uns das nie verzeihen.