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Keith Richards: Der Stones-Gitarrist im großen Interview

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Keith Richards: Der Stones-Gitarrist im großen Interview

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Mit den Stones hast du aus Rock’n’Roll- und Blues-Einflüssen einen neuen Sound destilliert, trotzdem bist du dem reinen Blues immer treu geblieben. Was fasziniert dich an einem Genre-Standard wie dem von Walter Horton inspirierten ›Blues In The Morning‹?
Das ist einfach die beste Musik, die in mir steckt. Nichts fühlt sich so natürlich an, der Blues ist ein riesengroßer Teil von mir. Dass ich überhaupt in der Lage bin, ihn spielen zu können, liegt allerdings nicht zuletzt an der Tatsache, dass ich stets mit herausragenden Schlagzeugern arbeiten durfte. Das ist das Wichtigste: Für den Blues braucht man einen wirklich überragenden Drummer. Ich habe nun einmal das unfassbare Glück, seit über 50 Jahren mit Charlie Watts spielen zu dürfen. Und wenn der mal nicht da ist, gibt es immer noch Mr. Steve Jordan, das sind zwei der besten überhaupt. Mit solchen Leuten ist alles möglich. Ich bin gesegnet mit den besten Schlagzeugern der Welt!

Keith Richards im Studio

Mit Gregory Isaacs ›Love Overdue‹ frönst du auf dem Album einer weiteren alten Leidenschaft: Reggae.
Ich musste Gregory einfach meinen Respekt erweisen! Zumal ich den Song immer geliebt habe. Hinzu kommt, dass das, was ich eben gesagt habe, auch für Reggae gilt: Steve Jordan ist einer der besten Reggae-Schlagzeuger überhaupt, er hat von Sly Dunbar gelernt! Es wäre also eine vertane Chance, wenn man mit ihm nicht auch Reggae spielen würde.

Bist du immer noch regelmäßig in deinem Haus auf Jamaika?
Ich war bereits seit einigen Jahren nicht mehr dort, stehe aber in regelmäßigem Kontakt mit den ganzen Leuten.

Wenn du alleine zu Hause sitzt und an einer Idee arbeitest, was kommt zu­­erst: Musik oder Text?
In 99 % der Fälle die Musik. Nur ganz selten schwirrt mir ein Textfetzen durch den Kopf, der mir so gut gefällt, dass ich die Musik um ihn herum baue. Diese Arbeitsweise ist aber deutlich schwieriger. Die ersten paar Ideen kommen im Allgemeinen von selbst. Schwierig wird es, wenn man einen Song grob zusammen hat und genau spürt, dass entscheidende Details fehlen. Diese Ergänzungen, vor allem die Texte, kosten oft Zeit und Nerven.

Die Deadline immer im Nacken?
Nicht dieses Mal. Wir entschieden uns bewusst gegen eine Deadline und arbeiteten so lange an den einzelnen Texten, bis wir rundherum zufrieden mit ihnen waren. Ich habe also eine Menge blauer Tinte verbraucht und vieles verworfen. „Das kannst du so nicht sagen“, war in dieser Zeit Steves Standardsatz. (lacht)

Arbeitest du heutzutage fortwährend an neuen Ideen oder nur im Rahmen einer Albumproduktion?

Die Ideen fliegen einem zu, das kann man nicht steuern. ›Robbed Blind‹: 15 Minuten. Ich wachte morgens auf, eine Viertelstunde später war das Ding fertig. Noch vor dem Frühstück! So läuft es allerdings leider nur sehr, sehr selten.

Womit wir bei deiner alten These sind, Songideen flögen die ganze Zeit über durch die Luft, man müsse lediglich seine Antennen richtig ausrichten, um einige von ihnen zu erwischen.
Dieser Überzeugung bin ich immer noch. Ich glaube nicht an das Konzept vom Künstlergenie. Eine Menge Songschreiber brüsten sich mit Ihren Kompositionen: „Das ist meine Kreation, sie gehört mir ganz allein, entstammt meinem Genie.“ Das habe ich stets für großen Schwachsinn gehalten. Ich bin in diesen Fragen etwas demütiger. Tatsächlich betrachte ich mich vor allem als eine Antenne. Diese Dinge passieren mir, weil ich zulasse, dass sie passieren. Wenn du offen für alles bist, mit deinem Instrument in einem Raum sitzt, und deinen liebsten Otis-Redding-Song spielst, passiert oft gar nichts – und in diesen seltenen, kostbaren Momenten genau das, was ich nie ganz verstanden habe und nicht anders beschreiben kann. Es ist eine Gabe. Und das Mindeste, was man tun kann, wenn einem dieser Segen zuteil wurde, ist offen durch die Welt zu laufen, seine An­­tennen auszurichten und Eingebungen demütig zu folgen. Mein Job besteht anschließend darin, das, was ich empfangen habe, zu entwirren – und am Ende kommt eventuell etwas Brauchbares dabei heraus. Diese Songs entspringen also nicht aus meiner Seelenmitte oder was weiß ich, sondern sie waren bereits vorher da. In diesem Moment, während wir beide sprechen, schwirren in diesem Zimmer Millionen von Songs umher. (lacht) Wenn wir jetzt Instrumente dabei hätten, könnten wir mit etwas Glück einen oder zwei von ihnen erwischen. Ich bin also praktisch das Medium. Es ist eine Gabe, die mir bisweilen zuteil wird, keine, die ständig in mir ruht.

Die Fähigkeit, aus dieser ersten Idee einen Song wie ›Satisfaction‹ zu ma­­chen, der generationsübergreifende Bedeutung für Abermillionen von Menschen hat, liegt also lediglich darin, nach der ersten Inspiration Fleiß und Disziplin walten zu lassen?
So ist es. Das ist der Punkt, an dem die Arbeit beginnt, bisweilen ist das eine reine Qual. Ich habe eine ganze Reihe von Songs, die über elf Jahre alt, aber immer noch nicht fertig sind. Einige von ihnen schließe ich irgendwann durch eine plötzliche Eingebung ab, andere nie. Vielleicht sollen manche Dinge auch einfach nicht vollendet werden.

Hast du deinen Arbeitsrhythmus in solchen Phasen inzwischen deinem Alter angepasst?
Ich arbeite mit anderen Leuten zusammen, nach denen ich mich richten muss. Ich selbst bin diesbezüglich enorm flexibel und kann im Prinzip zu jeder Tages- oder Nachtzeit arbeiten. Sobald sie mich reinlassen, stehe ich im Studio. Schwieriger ist es, mich wieder loszuwerden, wenn ich einmal losgelegt habe. Ich beiße mich am Pult fest wie eine Bulldogge. (lacht)

Kommt es noch vor, dass du, wie früher üblich, tagelang am Stück arbeitest, ohne überhaupt jemals zu schlafen?
Nein, diese Zeiten sind vorbei. Zu riskant. Man verliert den Überblick – und wenn man wieder aufwacht, grinst einem plötzlich die französische Polizei ins Gesicht.

Kaufst du während der Tourneen immer noch so viele Gitarren?
Ich fürchte, ich kann nicht davon lassen. Wenn ich mit den Stones unterwegs bin, ziehen Ronnie und ich immer wieder los. Milwaukee! Eine großartige Stadt zum Einkaufen. Unfassbar, was da für Zeug rumsteht. Ich würde sagen, in den letzten paar Monaten habe ich vielleicht vier oder fünf Gitarren gekauft. Ich kann einfach nicht widerstehen, wenn ich ein perfektes Instrument sehe.

Hast du jemals gezählt, wie viele Gitarren du inzwischen besitzt?
Irgendjemand meinte letztens, es müssten wohl an die 3000 Exemplare sein, aber das halte ich für grob übertrieben. Es sind maximal 2500. (lacht)

Das wären immer noch mehr, als ein einzelner Mensch jemals spielen kann.
Über die Jahre ist eine unvorstellbare Sammlung entstanden, worauf ich es übrigens nie angelegt hatte. Ich habe lediglich stets alles gekauft, was mir gefiel. Als Sammlung habe ich das nie betrachtet. Aber jetzt, wo du es erwähnst und mir die Zahl bewusst wird… Natürlich spiele ich diese Gitarren nicht alle. Auf den Tourneen habe ich vielleicht 15 dabei, die ich regelmäßig benutze. Ich liebe nun einmal Gitarren, da kann man nichts machen.

Spielt eines deiner Kinder Gitarre oder ein anderes Instrument?
Nur zum Spaß. Aber das ist ja auch das, worum es im Wesentlichen gehen sollte. Man muss kein Rockstar werden und diese ganze Scheiße machen. Es ist nicht einmal unbedingt nötig, sich überhaupt auf irgendeine Bühne zu stellen. Alles, worum es geht, ist der Spaß am Spielen. Ein Instrument ist wie ein guter Freund. In meinem Fall ist es die Gitarre, aber genauso gut kann es eine Geige, das Klavier oder irgendwas anderes sein. Ein Instrument sollte so sein wie ein guter Hund, ein zuverlässiger Begleiter. Mit einem Unterschied: Wenn der Hund stirbt, hat man immer noch das Instrument. (lacht)

Machst du gemeinsam mit deinen Kindern Hausmusik?
Einige meiner Neffen haben ziemlich was drauf und fragen mich bisweilen nach Tipps. Tatsächlich sind Sie technisch viel besser als ich. Oder sagen wir: Ich spiele auf eine andere Weise als sie.

Wie ich höre, besitzt du immer noch jenes Landhaus namens Redlands, das in den 60ern aufgrund einer aufsehenerregenden Razzia eine Weile im Mittelpunkt der damaligen polizeilichen Ermittlungen gegen die Stones stand.
Oh ja, natürlich, ich liebe das Haus. Nächsten Monat sind wir wieder dort. Angela, mei­ne gemeinsame Tochter mit Anita [Pallenberg] wohnt um die Ecke, unser Sohn Marlon 20 Minuten weiter. Sie alle sind in diese Gegend von England gezogen.

Marlon arbeitet im Kunstgeschäft, richtig?
So ist es. Er ist Unternehmer, ein Netzwerker. (lange Pause) Dabei könnte er eigentlich selbst ein richtig guter Künstler sein, aber er ist nicht besonders von seinen diesbezüglichen Fähigkeiten überzeugt. Du weißt ja, wie viele Künstler sind. (lacht) Ich habe ihn nie unter Druck gesetzt, er hatte stets die Freiheit, tun und lassen zu können, was immer er wollte – wofür er mich mit drei wundervollen Enkeln belohnt hat. Hinzu kommen Angelas Kinder, insgesamt habe ich also schon fünf Enkel, eigentlich kaum zu fassen. Sie sind alle großartig, und ich will dir eins sagen: Es ist um einiges leichter, ein guter Großvater zu sein, als ein guter Vater.

Sobald die Kinder Ärger machen, kann man ihre Eltern rufen. Außerdem kann man ihnen alles erlauben, was sie zu Hause nicht dürfen. So war es jedenfalls bei meinen Großeltern.
So ist es: „Hey, das Baby muss gewickelt werden, es hat geschissen, komm sofort her und verpass ihm eine neue Windel.“ (lacht)

Abgesehen davon schließt sich hier auch ein Kreis. Dein eigener Großvater, Gus, zu dessen Ehren du voriges Jahr das Kinderbuch „Gus & Me“ veröffentlicht hast, hatte eine besondere Bedeutung in deinem Leben. Er hat dir deine erste Gitarre ge­­schenkt, ohne ihn wärst du vielleicht nie zur Musik gekommen.
Das ist mir tatsächlich in ganz besonderer Weise noch mal bewusst geworden, als ich selbst Großvater wurde. Früher war das irgendwie selbstverständlich. In einer funktionierenden, miteinander verbundenen Familie liegt eine besondere Kraft. Das ist eine großartige Gabe.

Auf der anderen Seite macht einem das natürlich auch bewusst, dass man nicht mehr 25 ist. Es ist 54 Jahre her, seit du Mick Jagger am Bahnsteig von Dartford getroffen hast. Seitdem ist wahnsinnig viel passiert, aber trotzdem: Fühlt es sich tatsächlich auch so an wie ein halbes Jahrhundert?
Das ist eine dieser komischen Sachen im Leben. Im einen Moment denkt man noch, das alles wäre gestern gewesen – und im nächsten blickt man plötzlich vom anderen Ende eines immer länger werdenden Tele­skops auf diese Dinge und sieht sie immer kleiner und unschärfer werden. Nun, ich schätze, das ist es, was die Leute meinen, wenn sie vom Altwerden sprechen. (lacht) Das Komische ist allerdings, dass es sich nicht so an­­fühlt. Mein Körper ist zwar gealtert, aber bis heute bin ich nicht im klassischen Sinne erwachsen geworden.

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