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Jethro Tull: Die Zauberflöte

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Jethro Tull: Die Zauberflöte

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Es gab eine Zeit Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre, als Ian Anderson begann, sich auf den Weltuntergang vorzubereiten. 1947 geboren, war er ein Kind des Kalten Kriegs und die Bedrohung nuklearer Auslöschung war in seinem Leben permanent präsent gewesen. „Es schien immer absolut möglich, dass all das vorbei sein könnte, bevor ich zum Mann werde“, sagt er. Die eskalierenden Spannungen zwischen Ost und West und die Tatsache, dass er wenige Jahre zuvor mit dreißig erstmals Vater geworden war, machten die Ängste des Sängers von Jethro Tull intensiver denn je. Dass Anderson und seine Familie nur ein paar Kilometer vom Hauptquartier der Royal Air Force in der Nähe von High Wycombe in der Grafschaft Buckinghamshire lebten, half auch nicht unbedingt. „Das war für die Russen auf jeden Fall eines der potenziellen Hauptziele. Ich war nicht das, was man einen Überlebenskünstler nennen würde, aber ich machte mir ernsthafte Gedanken über einen Fluchtplan, falls der schlimmste Fall einträte.“ Dieser Fluchtplan bestand in seinen Worten darin, so schnell wie möglich aus Buckinghamshire abzuhauen, wenn sich der Ernstfall abzeichnen sollte. „Da standen zwei vollgetankte Fahrzeuge und wahrscheinlich knapp 150 Liter Benzin auf Vorrat. Damals gestaltete sich der Waffenbesitz noch einfacher und ich hatte ein paar ziemlich heftige Geschütze, die ich auch nicht zu Hause zurückgelassen hätte.“

Zur atomaren Vernichtung kam es dann doch nicht, doch eine fiktive Version davon entfaltet sich auf dem 23. Album von Jethro Tull, dem von nordischer Mythologie inspirierten RÖKFLÖTE . Mehr als einmal beschwört Anderson Ragnarök herauf – die sehr lebhaft geschilderte, katastrophale Interpretation der Endzeit aus der „Edda“, jener Gedichtsammlung aus dem 13. Jahrhundert, in der Geschichten der nordischen Götter nacherzählt werden.„Dieser Tag der Abrechnung, das Endzeitszenario findet sich in vielen Religionen“, sagt er. „Als das Thema der Platte sich zu entfalten begann, zog es mich zu Ragnarök.“ Er hebt wissend eine Augenbraue. „Das ist ein sehr passendes Thema angesichts der Zeiten, in denen wir leben.“ E s ist 9:30 Uhr morgens, als Anderson auf dem Zoom-Bildschirm erscheint. Er sitzt in seinem Büro in dem Landhaus aus dem 18. Jahrhundert in der Grafschaft Wiltshire, in dem er seit fast 30 Jahren wohnt – Buckinghamshire hat er längst hinter sich gelassen. Er hätte schon vor einer halben Stunde anrufen sollen, doch durch einen Tippfehler seinerseits hat er sich die falsche Zeit eingetragen. Er ist griesgrämig und jammert, dass er momentan viel Zeit damit verbringt, Links für solche Gespräche zu kopieren. Er hatte geplant, mit seiner Frau zum Supermarkt zu fahren, doch das hat sich nun erledigt. „Ich plage mich jeden Tag mit so vielen Interviews herum“, sagt er gereizt. „Dabei sollte ich ein Musiker sein, der auf Tour geht. Na ja, es ist schön, gefragt zu sein.“


Der Grund für die aktuelle Nachfrage ist RÖKFLÖTE, das nur gut ein Jahr nach THE ZEALOT GENE von 2022 erscheint, damals die erste Platte mit komplett neuem Material von Jethro Tull seit 1999. „Ich bin ein bisschen wie ein Regionalbus“, meint er, während die Gereiztheit zu verfliegen beginnt. „Man wartet 20 Jahre und dann kommen plötzlich zwei auf einmal.“ RÖKFLÖTE ist eine ordentliche Platte im Spätwerk von Jethro Tull. Der leicht wahnhafte, zottelhaarige Geist, der ihre frühen Klassiker befeuerte, ist darauf längst Vergangenheit, doch die sanftmütige Musik wird konterkariert von der textlichen Gravitas und Dichte, für die Anderson bekannt ist. War THE ZEALOT GENE noch von der Bibel inspiriert, die als Sprungbrett zu einer Auseinandersetzung mit dem Aufstieg des rechten Populismus oder dem immerwährenden Hang der Menschheit zu Konflikt und Krieg diente, wurzelt RÖKFLÖTE in einem völlig anderen, aber gleichermaßen abstrusen Glauben: heidnische nordische Mythologie. Jedes Lied beginnt mit einer Strophe, die eine der nordischen Gottheiten beschreibt, gefolgt von drei Strophen, die diese Figuren ins Heute versetzen. „Für mich ist das ein amüsanter Gedanke“, erzählt Anderson. Der Titel ist ein kleines Wortspiel. Zunächst war es als größtenteils instrumentales Flötenalbum mit dem beeindruckend wörtlichen Titel ROCK FLUTE konzipiert, bevor Anderson auf diese intensive thematische Reise ging, die ihn nach Walhalla führte. „Das ist ein Thema, von dem ich nicht mal ansatzweise fasziniert war“, sagt er lapidar über die textliche Inspiration zu der Platte. „Ich habe mich wahrscheinlich davon ferngehalten, weil es ein so fruchtbarer Boden für all diese Heavy-Metal- und Hardrock-Freak-Musiker ist, die über diese Welt fantasieren. Und da ich wusste, dass diese Mythologie Leute wie Heinrich Himmler angezogen hat, dachte ich, dass ich mich davon distanzieren sollte.“

Die Frage, was letztlich doch noch sein Interesse daran weckte, löst einen eloquenten, aber abschweifungsreichen Monolog aus, der seine Antipathien gegen den Geschichtsunterricht am Gymnasium („das einzige Fach, dessen Abschlussprüfung ich nicht bestanden habe“), einen langjährigen Groll gegenüber dem Lehrer in besagtem Fach („ein brutaler, schrecklicher kleiner Mann, genau wie Wladimir Putin“), das Schwänzen der Sonntagsschule, als er sieben war, indem er sich in einem Baum versteckte, während er einen Kilt trug („ein bisschen zugig, denn von mir als echtem Schotten erwartete man natürlich, keine Unterwäsche zu tragen“), und seine jugendliche
Faszination für „Religionen und Glaubenssyteme sowie die Kulturen, innerhalb derer sie in verschieden Teilen der Erde und an verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte operierten“, abdeckt. Letztere führte ihn schließlich zur nordischen Mythologie. „Ich kam zu dem Schluss, dass ich vielleicht etwas darüber lernen sollte“, sagt er ganz sachlich. „Mir gefiel wohl, dass es trotz all der Gottheiten im Pantheon immer noch eine grundlegende kosmische Kraft gibt, den Schöpfergeist.“ Sein Interesse an Religion und Glaube jeglicher Couleur ist an sich faszinierend. Er liebt das Konzept der Religion, kann sich aber nicht dem Aspekt des „Glaubens“ darin verschreiben. Oder wie er es so lebhaft formuliert: „Mir geht die Fähigkeit ab, mehr zu tun, als meine Hände sanft über die spirituellen Brüste gleiten zu lassen und nicht zu fest zu drücken, falls ich in den ganzen Akt hineingezogen werde. Es ist etwas, das mich schon immer interessiert hat, und wenn man älter wird, wächst wohl die Wahrscheinlichkeit, dass man sich über seine eigene Sterblichkeit Gedanken macht und wie das vielleicht alles viel zu bald vorbei sein könnte.“ Er grinst teuflisch. „Aber ich bin ziemlich fest entschlossen, dass Roger Waters zuerst geht.“

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1 Kommentar

  1. Leider hat diese Erkrankung vermutlich seine stimmlichen Fähigkeiten beeinträchtigt. Seine Stimme klingt in den neuen Songs sehr angeschlagen, brüchig.
    Natürlich spielt das Alter, der Mann wird 76 , mit eine Rolle, aber die Lungenkrankheit COPD ist meiner Meinung nach vermutlich der Hauptgrund seiner stimmlichen Probleme.
    Der Zahn der Zeit hinterlässt leider bei vielen Protagonisten aus der Hoch – Zeit – Ära des Prog-Rocks seine Spuren, leider.
    Für mich bleibt der Trost des Gesamtkataloges der Songs von Jethro Tull bis zum Split mit Martin Barre. Danach war Jethro Tull Legende, wurde das Ian Andersen – Projekt.

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