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Jethro Tull: AQUALUNG – Das letzte Aufbäumen

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Jethro Tull: AQUALUNG – Das letzte Aufbäumen

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„Je mehr man in dieser Madison-Avenue-Welt des Wohlstands lebt und diesen kommerzgetriebenen Lifestyle pflegt, desto eher kann man einfach aufhören, diese Menschen wahrzunehmen. Es ist dasselbe in den mittleren und oberen Schichten jeder größeren indischen Stadt. Es gibt unsichtbare Menschen, die so weit unten auf der sozialen Leiter stehen, dass sie verschwinden. Wenn ich mit wohlhabenden Menschen in Indien war, habe ich immer darüber gestaunt, dass sie von diesen Menschen absolut unberührt bleiben können. Sie haben einfach einen Filter, der sagt: ‚Sie sind nicht hier‘, und können an ihnen vorbeilaufen, ohne sie zu bemerken. Es ist ziemlich erschreckend und zutiefst verletztend, das miterleben zu müssen, aber wenn man lange genug dort ist, wird man vielleicht wie die Einheimischen und entwickelt dieselbe Blindheit. Das ist also AQUALUNG. Das ist es, was es mir nach all den Jahren bedeutet. Es geht nicht darum, zwölf Millionen Einheiten von einem Album zu verkaufen, oder wie viele auch immer es sind. Es ist ein Album mit Songs, von denen mich einige immer noch berühren, wenn ich sie singe oder über sie spreche. Es ist nicht schwer, auf die Bühne zu gehen, einen solchen Song zu singen und ihn immer noch zu fühlen. Die Wiederholung relativiert keineswegs das, was darin vor sich geht.“

In musikalischer Hinsicht ragt AQUALUNG nicht nur als bedeutender Meilenstein in der Evolution von Jethro Tull als kreative Kraft hervor, sondern in der Entwicklung der Rockmusik als solcher. Die ersten drei Studioalben der Band – THIS WAS (1968), STAND UP (1969) und BENEFIT (1970) – waren einfallsreich, aber letztlich vertraute Werke gewesen, verwurzelt im bluesinspirierten Tosen, das damals gang und gäbe war. Andersons Flöte war dabei ein wesentliches Element, das Tull von ihren Mitstreitern unterschied, doch erst mit AQUALUNG begannen sie, wie eine Band mit einem einzigartigen Sound zu klingen, oder auch eine, die überhaupt mit der gerade aufkommenden Progszene zu tun hatte, die Formationen wie King Crimson und Pink Floyd mit ihren Frühwerken unwissentlich begründet und vorangetrieben hatten. Die Wirkung von AQUALUNG kann teilweise darauf zurückgeführt werden, dass es eine Brücke zwischen donnernder, riffbasierter Schlichtheit und der staunenden Experimentierfreude beim stilistischen Crossover schlug, die später als Essenz des Prog angesehen werden sollte. Anderson, der bei den Aufnahmen des Albums erst 24 war, hat seine eigene Theorie darüber, warum es gerade diese Songsammlung war, die zu einem so gefeierten Meilenstein in der Geschichte seiner Band wurde. „Wir waren von einigen guten Vorbildern in Sachen Songwriting umgeben“, erklärt er, „von den Anfängen von Simon & Garfunkel und Bob Dylan zum sogenannten Folk-Revival im Amerika der 60er-Jahre bis zu Leuten wie Bert Jansch, die von Heroin und Tod sangen, oder dem launischen, leicht philosophischen Roy Harper, der ein großer Einfuss war, nicht nur auf mich, sondern auf viele Leute wie mich. Wir waren alle berührt von Roy Harper und standen in seiner Schuld, weil er uns eine Art der Reinheit und schlichten Klarheit in seinem Ansatz zeigte. Ich höre seine Musik auch heute noch und sie erinnert mich immer wieder an eine einfache Herangehensweise, bei der musikalisch wie textlich weniger mehr sein kann. Wir täten alle gut daran, uns daran zu erinnern!“

Mit einem gerade formierten Line-up aus Gitarrist Martin Barre, Keyboarder John Evan, Schlagzeuger Clive Bunker (für den es sein letztes Tull-Album werden sollte) und dem neuen Bassisten Jeffrey Hammond gingen Jethro Tull mit frischer Energie an AQUALUNG, sowohl was den Ehrgeiz der Musiker betraf als auch bezüglich der musikalischen Möglichkeiten, die nun in greifbarer Nähe waren. Anderson zog interessanterweise auch ganz eigene neue Möglichkeiten in Betracht, vor allem bezüglich des Aufnahmeprozesses. Er fasste eine Extraportion Mut und sah AQUALUNG als ideale Gelegenheit, ein bisschen mehr Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten als Songwriter und künstlerischer Anführer zu entwickeln. „Es war das erste Mal, dass ich den Mut hatte, alleine ins Studio zu gehen, mich hinzusetzen, auf der Gitarre loszulegen und einen Song zu singen. Dann kamen die anderen Jungs und fügten ihre Beiträge hinzu, doch die Stücke waren da schon mehr oder weniger komplett und jemand klatschte ihnen einfach nur auf den Hintern, um sie zum Leben zu erwecken. Vor AQUALUNG gab es nur einen Song, den ich ganz alleine gemacht hatte. Die Leute vergessen, dass ein Großteil der Platte einfach nur akustische Gitarre ist, sehr reduziert und eben keine Vollfett-Rocksongs, obwohl es auch ein paar davon gibt.“ Die Aufnahmen zu AQUALUNG begannen im Dezember 1970 im Studio von Island Records in der Basing Street, London. Auch die noch vergleichsweise frischen Led ­Zeppelin waren zu jener Zeit in dem Gebäude und arbeiteten an ihrem bald gepriesenen Meisterwerk LED ZEPPELIN IV in dem kleineren der zwei Studios, das Anderson als „viel besser beherrschbaren und klingenden Raum“ bezeichnet.

„Das Gebäude war eine Kirche. Wir mussten mit dem riesigen Hauptraum dieser Kirche Vorlieb nehmen, ein furchtbarer, kalter, hallender Raum. Da waren viele Geister. Es war sehr schwer, in diesen so großen Raum zu gehen und alleine dazusitzen, zu singen und eine akustische Gitarre zu spielen. Es herrschte dort eine gewisse Atmosphäre und ich musste wirklich in mich hineinblicken, um die richtige Einstellung dafür zu finden. Auch technisch war das sehr schwierig. Das Studio war neu mit all diesem brandneuen Equipment, das niemand bedienen konnte, lauter Geräte, die nicht richtig angeschlossen waren oder nicht richtig funktionierten, also hatten wir absolut keine Ahnung, wie irgendetwas klang oder womit wir da soundtechnisch arbeiteten. Ich glaube, wir durften ein- oder zweimal in das andere Studio, aber Led Zeppelin hatten dort das Sagen und das war’s.“ 40 Jahre später steht der Status von AQUALUNG als Meilenstein des Rock außer Frage, doch wenn man sich vorstellt, wie Jimmy Page an dem damals üppig gesichtsbehaarten Anderson vorbeilief, der auf dem Gang seine Flöte polierte, muss man sich doch fragen, ob diese Sessions von den Beteiligten als besonders vielversprechend empfunden wurden. Herrschte da ein Gefühl, dass dies eine enorm wichtige Platte für Tull werden würde, oder war es einfach „business as usual“ und ein weiterer Schritt auf dem Weg der Band?

„Uns war durchaus bewusst, dass es ein alles entscheidendes Album war, dass es entweder der erste große Schritt zu Ruhm und Reichtum auf internationaler Ebene sein würde, oder das Werk, das uns wieder dahin zurückbringen würde, wo wir angefangen hatten.“ Anderson kichert trocken, amüsiert von dem Gedanken, wie sich die Dinge hätten entwickeln können, wenn das Schicksal damals sein Licht auf eine andere Band gelenkt hätte. „Doch wenn ich mich recht erinnere, ging ich mit John Evan am Ende der Sessions, als wir am letzten Tag den letzten Mix machten, zu einem sehr frühen Frühstück. Es war sechs Uhr morgens, wir stolperten aus dem Studio, gingen in eine Wirtschaft in der Nähe und aßen im Morgengrauen unser Frühstück. Ich weiß noch, wie ich zu ihm sagte: ‚Ich weiß wirklich nicht, was wir hier haben. Glaubst du, dass alles gut sein wird?‘ Ich hatte richtige Zweifel, ob es wirklich ein positiver Schritt nach vorne sein würde. Aber wir wussten intuitiv, dass es wichtig war, dass es gut bewertet werden würde und vom Start weg gut laufen würde. Ich weiß noch, dass ich mir Sorgen über schlechte Kritiken machte, in einer Zeit, als Kritiken noch wirklich wichtig waren. Es gab damals vier oder fünf Musikzeitungen, und jede davon gab einem eine ganze Seite Liebe oder Hass, je nachdem. Man konnte also nicht ausblenden, was an den Kiosken in der Oxford Street los sein würde, was mir große Bauchschmerzen bereitete. Ich war mir nicht sicher, wie es aufgenommen werden würde, aber tatsächlich war die Reaktion in Großbritannien dann ziemlich gut. Vor allem aber schlug es in vielen europäischen Ländern und natürlich in den USA richtig ein.“

Tull hatten seit jeher eine große und ­loyale Gefolgschaft in Großbritannien und Europa gehabt, doch es war ihr Erfolg in den USA, der sie auf ein neues Level an Bekanntheit hob, das alle überraschte, inklusive Anderson selbst. Ein Jahr nach AQUALUNG erreichte das epische Faux-Konzeptwerk THICK AS A BRICK Platz eins der Billboard-Charts und verwandelte diese so gewollt sperrige Band in große Hallen füllende Rockstars in einem Land, das sie genauso gut ­hätte kategorisch ablehnen können. Einige der Texte auf AQUALUNG transportieren schließlich nicht gerade jene Themen, die sich der durchschnittliche gottesfürchtige Amerikaner zu Herzen nehmen würde.

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