Der Spätsommer des Jahres 1991 wird uns wohl auf ewig als heißester der jüngeren Rock-Historie in Erinnerung bleiben. Einen Monat nach Metallicas „schwarzem Album“ und eine Woche vor Nirvanas NEVERMIND erblickten zwei untrennbar miteinander verbundene Meilenstein-Alben das (Rampen-)Licht der Riffwelt: USE YOUR ILLUSION I & II von Guns N’ Roses. CLASSIC ROCK protokolliert eine Entstehungsgeschichte mit zahlreichen Hindernissen.
“Wir durften im Oktober 1989 im Vorprogramm der Rolling Stones auftreten. Ein Hammer für uns, denn wir liebten die Band! Als wir vor Ort ankamen, blieben unsere Münder offen stehen. Jedes Mitglied der Stones hatte seine eigene Limousine, seinen eigenen Wohnwagen, sogar seinen eigenen Anwalt… Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich damals zu Izzy rüberbeugte und leise zu ihm sagte: ‚Hey, so werden wir nie sein!‘ Doch sechs Monate später lief es bei Guns N’ Roses exakt genauso ab!“
Während Duff McKagan diese Sätze ausspricht, lehnt er sich in seinem Stuhl nach vorne und streicht sich mit beiden Händen die Haare nach hinten. Der Bassist wirkt so, als könnte er selbst jetzt, 20 Jahre nach diesem einschneidenden Moment, nicht glauben, mit welch gigantischer Geschwindigkeit er und seine Kollegen damals von der Erfolgswelle mitgerissen worden sind – und welche Ausmaße die Zerstörung hat, die erst sichtbar wird, nachdem sich die Flut der Ebbe weicht. McKagan ist ein Mensch, der stets darauf bedacht ist, nichts zu überstürzen. Manche werfen ihm vor, er würde klammern. Nicht ohne Grund ist er der Einzige, der Axl Rose bis zum Schluss nicht im Stich lassen will. Er bleibt bis zum bitteren Ende, stärkt Rose bis zum August 1997 den Rücken.
Die letzten Monate erscheinen im heute quälend lang, insbesondere im Vergleich zu den Anfangstagen, die so rasant vorübergingen, dass sich Duff McKagan nur noch an wenige Details erinnert. Was natürlich auch an den Drogen liegen mag, aber eben auch am Tempo, mit dem dank der Zwillingsalben USE YOUR ILLUSION I & II der Weltruhm über Guns N’ Roses hereinbricht. „Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, was zu diesem Zeitpunkt wirklich passiert ist. Und das, obwohl ich hautnah dabei war“, gibt McKagan zu, und er scheint sich dabei auch über sich selbst zu wundern.
Dabei sind die Fakten rasch zusammengefasst. Für einige wenige Monate, nämlich von 17. September 1991 bis zum Beginn der Jahres 1992, können sich Guns N’ Roses ihren Traum erfüllen: Sie sind offiziell die größte und wichtigste Band der Welt.
In der Nacht zum 17. September stehen sich Rockfans die Beine in den Bauch. Denn Verkaufsstart der beiden Alben ist nicht etwa zu den gewöhnlichen Ladenöffnungszeiten, sondern in vielen großen Shops bereits um Mitternacht. Lange Schlangen wickeln sich um die Häuserecken von Plattenläden wie Tower Records. Mancher Käufer hingegen bekommen VIP-Treatment und dürfen als einer der Ersten zugreifen: Multimillionär Donald Trump etwa, der in Manhattan mit einer Limo inkl. fünf kessen Begleiterinnen vorfährt, um sich seine beiden Kopien von USE YOUR ILLUSION zu sichern.
Auszeit vom Trubel
Die Band selbst bekommt von dem Trubel nur am Rande etwas mit. Gitarrist Slash, der von den nervenaufreibenden Recordings total zermürbt ist, will sich eine Auszeit gönnen und bucht Urlaub in Tansania. Doch auf dem Weg zum Flughafen lässt er es sich nicht nehmen, einen Zwischenstopp einzulegen. Bei „Tower Records“ am Sunset Boulevard darf er sich in einen Raum mit verspiegelter Glasscheibe setzen – dort beobachten normalerweise Detektive das Geschehen im Laden, um Diebe in flagranti zu ertappen. Slash lässt sich mit gemischten Gefühlen auf einem Stuhl nieder. Denn vor zehn Jahren ist er hier selbst beim Klauen erwischt worden. Er wollte Kassetten mitgehen lassen. Nun hockt er da und sieht seinen Fans dabei zu, wie sie sich um seine Alben prügeln. „Es war ein merkwürdiger, aber im Nachhinein doch auch ein magischer Moment“, so der Gitarrist heute. „Danach ließ ich mich zum Airport bringen, stieg in den Jet und landete in einer völlig anderen Welt. Ich verbrachte mehrere Wochen im Maasi Mara-Nationalpark nahe der kenianischen Grenze. Recht viel weiter kann man sich nicht vom Rockstar-Leben entfernen, schätze ich…“
Als Saul Hudson, so Slashs bürgerlicher Name, in die Vereinigten Staaten zurückkommt, ist er erholt. Und bekommt direkt den ersten Schock. Während seiner Abwesenheit sind allein in den USA 770.000 Exemplare von USE YOUR ILLUSION II verkauft worden. Das Album steht auf Platz eins der Billboard-Charts. Nur einen Rang dahinter: USE YOUR ILLUSION I – mit 685.000 verkauften Einheiten.
„Ja, der Erfolg kam wirklich fast über Nacht“, erinnert sich Alan Niven, der Mann, der Guns N’ Roses bis kurz vor Abschluss der USE YOUR ILLUSION-Sessions als Manager zur Seite gestanden hat. „Wir haben drei Jahre lang versucht, die Band nach vorne zu bringen, mehr und mehr Fans an uns zu binden. Und dann plötzlich machte es ‚Peng!‘, und die Sache entwickelte eine Eigendynamik, die kaum noch zu steuern war. Ich kam mir ein bisschen vor wie Sisyphus. Jahrelang hatten wir versucht, diesen verdammten Stein den Berg heraufzuwuchten, doch er rollte immer wieder zurück. Eines Tages jedoch erreichten Guns N’ Roses den Gipfel. Und was passierte? Der Stein sauste unkontrolliert den Hang hinunter – nur diesmal eben auf der anderen Seite.“
Obwohl Niven im Recht ist, denn die Band wird der Lage tatsächlich nicht mehr komplett Herr, ist doch vor allem er selbst derjenige, für den sich die harte Arbeit nicht ausgezahlt hat. Er besitzt keinen Einfluss mehr, die Band hat ihn gefeuert – angeblich ist Axl Rose die treibende Kraft. Der Sänger soll sich geweigert haben, die Platten fertig einzusingen, wenn Niven nicht seine Koffer packt. Und obwohl die Entscheidung offenbar wichtig (und richtig ist), um den kreativen Prozess zum Abschluss zu bringen, fehlt Guns N’ Roses inmitten des Megarummels ein Vertrauter, die sie genau kennt. „Ich fühlte mich, als wäre ich in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen, aus dem ich keinen Ausweg mehr finde“, berichtet Niven rückblickend. „Aber im Nachhinein sieht es wohl so aus, als wäre ich nicht der Einzige, dem es so ergangen ist. Denn ehrlicherweise muss man sagen, dass Guns N’ Roses nach USE YOUR ILLUSION kein bedeutendes Album mehr zu Stande gebracht haben. Izzy Stradlin hat die Band drei Monate nach meinem Abgang verlassen, und danach war intern nichts mehr so wie zuvor. Das Kollektiv Guns N’ Roses, die Gruppe, die alles gemeinsam erreichen wollte, koste es, was es wollte, entwickelte sich mehr und mehr zu einem Act, bei dem sich alles nur noch um Axl Rose drehte. Axl bezahlte die anderen, dafür sollten sie ihm das Rampenlicht überlassen, den Mund halten und das tun, was er verlangte.“
Underground vor Mainstream
Niven weiß, verletzter Stolz hin oder her, wovon er spricht. Denn er hat viel Zeit mit Guns N’ Roses verbracht. Anfangs wollte er den Managerjob gar nicht übernehmen. Tom Zutaut,der junge A&R, der die Band zum Geffen-Label gebracht hat, muss ihn überreden, den Posten anzutreten. Denn der Ruf, der den Gunners vorauseilt, ist katastrophal. Sie halten sich an keine einzige Regel, zerstören alles, das ihnen in den Weg kommt. Und zwar mit Absicht – es ist Teil des Images, das sich die Band selbst verpasst hat. Diese Rocker-Mentalität kommt bei den Bewunderern der Gruppe hervorragend an, ist aber in geschäftlicher Hinsicht ein Albtraum. Niven nimmt, so betont er, „die Herausforderung nur deshalb an, weil ich ohnehin nichts mehr kaputtmachen konnte. Das hatte die Band vorher schon erledigt.“ Der Manager entscheidet sich daher für eine unkonventionelle Strategie – die zuvor schon Peter Mensch und Cliff Burnstein erfolgreich bei Metallica angewandt haben: Er will zunächst den Underground erobern und dann erst die Mainstream-Hörerschaft gewinnen. „Ich habe zwar damit gerechnet, dass die Band rasch größer werden würde. Aber einen derartigen Höhenflug konnte niemand vorhersehen. Ich nicht, die Musiker nicht, niemand. Wer etwas anderes behauptet, tickt nicht ganz richtig.“
Um die Glaubwürdigkeit der Rocker in den Staaten zu erhöhen, beschließt Niven, einen Umweg zu gehen. Er setzt dabei auf die Sogwirkung, die der britische Musikmarkt auf die US-Charts hat. 1987 treten Guns N’ Roses erstmals in Donington auf – zu diesem Zeitpunkt haben sie gerade mal 7.000 Alben verkauft. Eine Woche später sind es bereits 75.000 – APPETITE FOR DESTRUCTION geht buchstäblich durch die Decke. Noch Monate nach dem Auftritt steigen die Abverkäufe stetig an, im Frühjahr 1988 stellt Alan Niven schließlich fest, dass er mit seiner Taktik zwar richtig gelegen, den Effekt aber unterschätzt hat – ein Jahr nach der Veröffentlichung in den USA erreicht die Platte schließlich Platz eins der Billboard-Charts, alle sind überwältigt. „Ich kann zwar nicht für die anderen in der Band sprechen“, stellt Gitarrist Slash klar, „aber in meinem Fall war es so, als hätte jemand meine Welt auf den Kopf gestellt. Ich bin wie ein Zigeunerjunge aufgewachsen, ohne Wurzeln und feste Bindungen, danach ging es direkt mit Guns N’ Roses auf Tour, sodass ich auch nur unterwegs war. Und dann plötzlich hieß es: :Jungs, ihr seid Superstars!‘ Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Schließlich war ich es überhaupt nicht gewohnt, einen festen Wohnsitz zu haben, schon die einfachsten Alltagsaufgaben überforderten mich komplett. Hinzu kam, dass die Drogen ihre Spuren hinterlassen hatten – ich war depressiv, fühlte mich furchtbar, musste mich aber irgendwie zusammenreißen, um die Songs für unser zweites Album zu schreiben.“
Slash ist nicht der Einzige, dem es dreckig geht und der sich mit seinen Problemen allein gelassen fühlt. Auch die anderen Band-Mitglieder sind ausgebrannt und orientierungslos. Hinzu kommt, dass Guns N’ Roses in ihrer Heimat erst vergleichsweise spät ernst genommen werden. APPETITE FOR DESTRUCTION ist offiziell am 21. Juli 1987 veröffentlicht worden, den Billboard-Thron erobert die Scheibe erst am 23. Juli 1988. Damit hat niemand gerechnet. Als die Gunners endlich von ihrer langen Tour zurück nach Hause kommen, sind sie plötzlich berühmt. „Wir konnten uns Häuser kaufen und uns alle Dinge leisten, die früher nie drin waren, weil keiner von uns Geld hatte. Doch wie man vernünftig mit so einer Situation umgeht, brachte uns niemand war. All das überrollte uns förmlich. Wir gingen in L.A. aus – und alle Leute im Clubs zogen sich auf einmal so ähnlich an wie wir, hörten dieselbe Musik, tranken die gleichen Drinks. Es war bizarr. Wir kamen daheim an – und plötzlich hatten sich Guns N’ Roses zu einer Art ‚kulturellem Phänomen‘ entwickelt“, berichtet Duff McKagan. „Ich bin in den Supermarkt, um etwas zu essen einzukaufen und lief am Zeitschriftenregal vorbei. Dort lag das Magazin ‚Rolling Stone‘, mit Guns N’ Roses auf dem Cover! Die Leute sahen das Heft, blickten dann auf, sahen mich, schauten noch mal auf das Titelbild und starrten mich dann an oder begannen hysterisch zu kreischen. Und ich dachte nur: ‚Was ist los? Was wollt ihr? Ich kaufe hier doch schon seit ewigen Zeiten ein…“
Obwohl auch Alan Niven überrascht und überrumpelt ist, dauert es bei ihm nicht lange, bis er weiß, dass er handeln muss. Die Band braucht Zeit, zur Ruhe zu kommen – die Fans und die Plattenindustrie dagegen will frisches Futter. Also entscheidet er sich für einen Kompromiss, das Mini-Album GN’R: LIES. „Ich bin stolz darauf, dass es mir zumindest gelungen ist, die Truppe so weit bei Verstand zu halten, dass sich niemand eine Überdosis verpasst oder das Leben genommen hat“, erklärt der gebürtige Neuseeländer. „Das hört sich vielleicht überheblich an, war aber im Fall von Guns N’ Roses harte Arbeit. Denn im Grunde ist es doch so: Einem Abhängigen kann man zwar helfen, aber er muss selbst die Kraft finden, sich für ein nüchternes Leben zu entscheiden. Slash hat einmal bei mir zu Hause einen kalten Entzug durchgezogen. Er lag auf dem Bett, und ich wischte ihm sein Erbrochenes aus dem Gesicht. Als das Gift endlich aus seinem Körper verschwunden war, rief er ein Taxi – und fuhr damit direkt zu seinem Dealer. Solche Dinge passierten beinahe täglich.
Ein anderes Mal bat ich ihn, in mein Büro zu kommen, um dem ‚Guitar Player‘-Magazin ein Interview zu geben. Er kam zwar, doch ein vernünftiges Gespräch war gar nicht mehr möglich. Also packte ich ihn, verfrachtete ihn ins nächste Flugzeug nach Hawaii, wo er in irgendeinem Golfhotel abstieg. Ohne dort auch nur ein einziges Mal den Schläger anzurühren, versteht sich… Mit Steven war es ähnlich. Auch für ihn hatte ich einen Trip nach Hawaii organisiert. Doch er hatte nichts Besseres zu tun, als sich in seinen Erster-Klasse-Sitz zu flätzen und dabei wild herumzukrakeln, dass doch alles Scheiße sei und der Flieger definitiv abstürzen würde. Das Ende vom Lied: Er musste aussteigen, ließ sich zurück in die Stadt chauffieren und haute sich bei seinem Dealer sofort wieder dicht bis unter die Haarspitzen.“