„Gebt mir einen Weißen, der wie ein Schwarzer singen kann!“, hatte der Legende nach Sun-Records-Boss Sam Phillips gefordert. Er sollte ihn bekommen. Und die Welt noch weitaus mehr: eine Revolution der Teenager – ausgelöst von einem ehemaligen LKW-Fahrer, der erst Elvis The Pelvis, dann schlicht Elvis und schon bald der King genannt werden sollte. Am 08. Januar hätte er Geburtstag. Wir gratulieren und blicken auf einige Stationen seines Lebens.
Elvis ist schuld. Elvis Aaron Presley. Schuld am Niedergang der Moral, an Jugendkriminalität, Rassenvermischung und Gottlosigkeit. Er ist ein Verführer der Jugend, ein Unruhestifter. Er vermittelt jungen Mädchen die Illusion sexueller Gefahr. ›Let Me Be Your Teddy Bear‹ singt dieser Aufrührer mit den beweglichen Hüften, doch die Bedeutung dieser Worte scheint eine andere zu sein. Amerika zeigt sich schockiert. Der Untergang des Abendlandes ist nah. Wir schreiben das Jahr 1956. Der am 8. Januar 1935 in Tupelo, Mississippi, geborene Sänger ist 21 Jahre alt und bereits eine Millionen-Dollar-Maschine. ›Heartbreak Hotel‹, ›Hound Dog‹, ›Don’t Be Cruel‹, ›Love Me Tender‹, ›All Shook Up‹ – nahezu jeder seiner Songs springt an die Spitze der Charts. Mit seinem Aussehen, seiner Stimme und seinem wilden Sex-Appeal ist der junge Sänger ohne jede Konkurrenz. Scheinbar wie aus dem Nichts ist er plötzlich aufgetaucht, ein Heilsbringer, eine Lichtgestalt. Innerhalb kürzester Zeit wird er das Showgeschäft für immer verändern: Elvis Presley, der King of Rock’n’Roll, der Urknall des Rock, Befreier der Jugend, späterer Käfigbewohner von Graceland, fresssüchtig und tablettenabhängig, Waffennarr, einsam – und dennoch Blaupause für alle, die da nach ihm kommen sollen, von John Lennon bis zu Curt Cobain. Ohne Elvis kein Anfang. Ohne Elvis nichts als Tristesse.
Von Tupelo nach Memphis
„Das habe ich nie gesagt“, erklärte Sam Phillips, der Gründer von Sun Records in Memphis, zeitlebens immer wieder und bezog sich auf das geflügelte Wort, man gebe ihm einen Weißen, der wie ein Schwarzer singen kann, und er werde Millionen verdienen. Und damit sind wir schon mittendrin in der Mythen- und Legendenbildung rund um den King. Doch wie heißt es so schön: Ist die Geschichte besser als die Wahrheit, dann erzähl die Geschichte. Und überhaupt: An die Wahrheit zu kommen, gleicht dem Versuch, Wasser in einem Tuch nach Hause zu tragen. Überliefert ist aber immerhin
dies: Dass es Marion Keisker war, Sam Phillips’ Sekretärin und Vorzimmerdame, die Elvis’ Talent er-kannte und ihn entdeckte.
„Guter Balladensänger“, vermerkt sie nach einem Vorsingen in den Sun Studios, „im Auge behalten“, und notiert sich die Anschrift des jungen, gutaussehenden Mannes mit der Tolle und den Koteletten. Eine Handlung mit Folgen, auch wenn es die Sekretärin nicht ahnt. Denn Aufbruch und Rebellion liegen keineswegs in der Luft. Ruhe und eine dumpfe Gelassenheit herrschen im Süden der Vereinigten Staaten, alles hat seine Ordnung. Farbige (die man noch straffrei Nigger rufen darf) sitzen hinten im Bus, der Ku-Klux-Klan geht weitgehend unbehelligt seinen rassistischen Neigungen nach, Bigotterie und Fortschrittsgläubigkeit, wohin man auch sieht, und aus den Radios und Juke-Boxes tönen glattgebügelte Nummern von Frank Sinatra, den Chordettes und Johnny Ray. Was Marion Keisker, die Sun-Records-Sekretärin, nicht ahnt: Die Sozialisation des jungen Mannes, den sie als guten Balladensänger einstuft, vollzog sich für einen im Süden der USA aufwachsenden Weißen ein wenig anders als üblich.
Die Eltern des späteren King, Gladys und Vernon Presley, sind arm. Bitterarm sogar. In den USA herrscht 1935 immer noch die Wirtschaftskrise. Als Sohn Elvis zur Welt kommt, ist Mutter Gladys Näherin und Vater Vernon fährt Milch aus. Von seinem Arbeitgeber Orville Bean hat er ein Grundstück und Holz zugewiesen bekommen, mit dem er eigenhändig ein Zwei-Zimmer-Häuschen mit Außenklo zimmert, das allerdings Eigentum des Arbeitgebers bleibt und für das die Presleys Miete bezahlen.
Gladys bringt 1935 Zwillinge zur Welt, doch das erstgeborene Baby ist tot. Eine halbe Stunde später hält Vernon Presley das zweite im Arm, dem er den Namen Elvis gibt – ein Anagramm von „lives“: „lebt“. Vernon Presley ist oft arbeitslos. Als er wieder einmal keinen Ausweg weiß, fälscht er einen Scheck von seinem Arbeitgeber Orville Bean. Der Betrug fällt auf, und Vernon wird für anderthalb Jahre auf die berüchtigte Parchman-Farm verbracht. Doch damit nicht genug: Bean jagt Gladys mitsamt ihrem dreijährigen Kind aus dem Haus. Eine Reihe von Umzügen beginnt. In der Schule ist Elvis aufgrund seiner Zartheit das Ziel von Spott und Hänseleien. Einen Ausgleich findet er früh in der
Musik: im Blues, im Country, mehr aber noch in der Gospelmusik. „Seit ich ein Kind war, wusste ich, dass etwas mit mir geschehen würde“, äußert sich Elvis später einmal. „Ich hatte keine Vorstellung, was es sein würde, aber es war ein Gefühl, dass die Zukunft irgendwie hell schien.“
Diese Schilderung trifft es nicht ganz. Der Legende nach war Elvis ein einfacher LKW-Fahrer und wurde durch Zufall entdeckt. Tatsächlich aber ist es sein frühes Interesse an jeder Art von Musik, die Elvis für seine spätere Karriere positioniert. Die Presleys leben in Tupelo am Rande eines Viertels namens Shakerag, dem Black Quarter des Ortes. Gierig saugt der junge Elvis die Musik der dort wohnenden Farbigen auf. Darüber hinaus ist er bereits als Schüler oft im Studio des Radiosenders WELO zu Gast, wo Carvel Lee Ausborn alias Mississippi Slim regelmäßig eine Live-Sendung bestreitet. Mississippi Slim (nicht der Blues-, sondern der gleichnamige Country-Sänger) wird Elvis’ erstes Idol. Der Junge folgt ihm überallhin. Im Gegenzug bringt der Countrybarde seinem jungen Fan erste Gitarrentricks bei. Jung-Elvis tritt sogar ein paar Mal in Ausborns Radioshow auf. Doch die Weichen für die spätere Karriere werden durch etwas anderes gestellt: Die Behörden von Tupelo, damals ein kleines 6.000-Einwohner-Kaff, legen Vernon Presley nahe, den Ort zu verlassen, angeblich, weil er des Öfteren Schweine verkauft, die ihm nicht gehören. So verlassen die Presleys im September 1948 mit ihrem 13-jährigen Sohn Mississippi und übersiedeln nach Memphis. Ihre komplette Habe passt in den Kofferraum und auf das Dach ihres alten 1939er-Plymouth.
Big Bang In Memphis
Memphis mit seinen damals knapp 400.000 Einwohnern ist für die Presleys ein Schock. Ihre erste Bleibe: eine dreistöckige Mietskaserne, die über sechzehn Räume verfügt. In jedem dieser Zimmer lebt, kocht, isst und schläft eine komplette Familie, unter ihnen nun auch die Presleys: Vater Vernon, Mutter Gladys, Elvis sowie Grandma Minnie Mae. Erst ein Jahr später wird es ihnen gelingen, die Slum-Behausung gegen den relativen Luxus einer Sozialwohnung einzutauschen. Doch etwas anderes prägt den jungen Elvis viel stärker: In Memphis sendet WDIA, „Amerikas einzige schwarze 500.000 Watt-Radiostation“, wie WDIA stolz für sich wirbt. Unter den DJs des Senders: B.B. King und Rufus Thomas. Und noch etwas wird sich sehr bald als bedeutsam erweisen: Einen jungen Rundfunkingenieur namens Sam Phillips zieht es von Nashville ebenfalls nach Memphis, wo er 1950 mit 27 Jahren ein kleines Plattenlabel gründen wird: Sun Records. Noch vier Jahre bis zu Bill Haleys ›Rock Around The Clock‹. Nur noch drei Jahre, bis Elvis Presley an einem Augusttag des Jahres 1953 Phillips’ „Memphis Recording Studios“ aufsuchen wird. Doch nicht Sam Phillips ist es, dem der 18-Jährige dort begegnet, sondern eben jene Vorzimmerdame namens Marion Keisker.
„Was für eine Art von Sänger sind Sie?“, fragt sie den jungen Mann. „Wie singen Sie? Wie wer?“ Elvis antwortet: „Ich singe überhaupt nicht wie irgendwer sonst.“ Elvis singt zwei sentimentale Balladen ein: ›My Happiness‹ und ›That’s When Your Heartaches Begin‹, beides nicht die Art von Musik, für die sich Sam Phillips erwärmt. In seinem winzigen Studio in der Union Street nimmt er hauptsächlich schwarze Bluesmusiker auf: Howlin’ Wolf, Junior Parker, Little Walter und auch Jackie Brenston, der mit der Ike-Turner-Band 1951 bei Sun das legendäre ›Rocket 88‹ einsingt, jenes Lied, das heute gemeinhin als der erste Rock’n’Roll-Song der Musikgeschichte gilt. Phillips verdient allerdings kaum Geld an dem Stück, da er die Aufnahme sehr schnell an Chess Records in Chicago verkauft. An Balladen zeigt Phillips dagegen wenig Interesse, und so lässt er sich über ein Jahr Zeit, ehe er Elvis zu professionellen Aufnahmen ins Studio holt – und das auch nur, weil Marion Keisker ihren Chef immer wieder auf den gutaussenden Burschen mit den Koteletten aufmerksam macht.
„Ohne diese Dame hätte ich keine Chance bekommen“, so der King später. „Diese Frau glaubte an mich.“ Und nun setzt endgültig die Legendenbildung ein. Eine Version der Geschichte lautet wie folgt:
Am 5. Juli 1954 lässt der Sun-Chef den jungen Mann mit dem fremdartigen Aussehen drei Balladen einsingen. Doch Phillips ist mit dem Ergebnis nicht zufrieden, weshalb er diese Aufnahmen auch später nie herausbringen wird. Und dann schließlich passiert es. Mit den Begleitmusikern Bill Black und Scotty Moore, die Elvis bei den Aufnahmen begleiten, entsteht in einer Pause, quasi spontan, etwas völlig Neues, noch nie da Gewesenes. „Plötzlich fing Elvis an, wie verrückt zu spielen und ein Lied zu singen“, wird Gitarrist Scotty Moore oft zitiert. „Bill hob den Standbass auf, und ich spielte auch mit. Sam steckte plötzlich seinen Kopf aus dem Kontrollraum und fragte uns: ›Was zum Teufel macht ihr da? – Versucht, einen Anfang zu finden und macht es noch mal!‹“ Die Aufnahme, die auf diese Weise entsteht, ist ›That’s All Right (Mama)‹ aus der Feder des schwarzen Blues-Sängers Arthur „Big Boy“ Crudup. Sie wird zum Katalysator von Elvis’ Karriere und für den Rock’n’Roll zum Big Bang.
Elvis selbst erinnert sich an diesen Tag rückblickend ganz anders. Ihm zufolge entstand die Nummer keineswegs spontan. „’Willst du es mal mit einem Blues versuchen?‘, fragte mich Phillips am Telefon. Er wusste, dass ich diese Musik immer schon mochte. Er ließ den Namen Big Boy Crudup fallen und vielleicht noch einige andere, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich die fünfzehn Häuserblocks zu Mr. Phillips Studio zurückgelegt hatte, ehe er überhaupt den Hörer auflegen konnte – so sagt er jedenfalls. Wir sprachen über Platten von Crudup, die ich kannte, und einigten uns schließlich auf ›That’s All Right‹.“
Mit einer Vorabpressung des Songs eilt Sam Phillips am 7. Juli zu einem bekannten Radio-DJ namens Dewey Phillips (nicht verwandt und nicht verschwägert), der beim örtlichen Radiosender WHBQ mit großem Erfolg Songs farbiger Musiker spielt. Die Reaktionen der Hörer auf ›That’s All Right‹ kommen prompt: Die Telefone des Senders stehen nicht mehr still. Was dazu führt, dass Dewey Phillips die Scheibe in derselben Sendung vierzehnmal hintereinander spielen muss. Elvis selbst bekommt von diesem ersten Erfolg nicht das Mindeste mit. Er hat sich in einem Kino versteckt.
Hail, Hail Rock’n’Roll
Vor Elvis hatte es in Sachen Jugendmusik im Großen und Ganzen nur Bill Haley gegeben. Dessen ›Rock Around The Clock‹ bringt nach und nach eine Lawine ins Rollen. 1955 wird der Song ein Hit in Staaten, dann in England und schließlich in der ganzen Welt. Der Rock’n’Roll ist geboren – von einem dicklichen Mann, der Vater von fünf Kindern ist und mit einem Sexsymbol so viel Ähnlichkeit hat wie eine Warze mit einer Perle. Trotzdem: Teenager überall auf der Welt sind euphorisiert. Damit es jedoch richtig losgehen kann, braucht es jemanden, der Ausstrahlung hat, jemanden Junges, der Exklusivbesitz der Teenager ist und von der Elterngeneration verdammt und abgelehnt wird. Elvis Presley bringt all diese Voraussetzungen mit. Etwas Ge-fährliches verbirgt sich in seiner Stimme. Er wirkt androgyn, fast wie von einem anderen Planeten. Die Bewegungen, die er beim Singen vollführt, sind unmissverständlich.
Die amerikanischen Teenager, gefangen in einem Alltag aus gesellschaftlichen Zwängen und spaßfreier Tristesse, hatten insgeheim auf das göttliche Manna gewartet. Nun ist direkt vor ihren Augen ein verteufelt sexy aussehender Messias erschienen und verteilt es reichlich an sie. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Weltreligion, der man den Namen Rock geben wird. Und wie jede andere gottverdammte Religion auch, beruht sie auf einem dreisten Versprechen: Euer Leben ist mies, aber
frohlocket, denn es gibt Hoffnung für euch. Von Anfang an beruht die Wichtigkeit von Elvis darauf, dass plötzlich deutlich wurde, welch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor die Teenager sind. Keiner der altgedienten Plattenbosse, die Hunderte von Schmuse- und Schnulzensängern unter Vertrag haben, um an das Geld der Erwachsenen zu kommen, ist sich bis dahin darüber im Klaren gewesen, dass sich mit diesen hysterisch schreienden Kids noch weitaus mehr Geld scheffeln lässt. Noch aber ist die Maschinerie nicht richtig ins Laufen gekommen. Sun Records ist nicht breit genug aufgestellt, um Elvis Presley landesweit zu etablieren.
Doch es herrscht Goldgräberstimmung – wenngleich noch niemand ahnt, welche Entwicklung alsbald ihren Lauf nehmen wird. Springen wir mutig knapp über fünfzehn Jahre nach von und werfen wir einen Blick auf das, was noch kommt.
Long live the King. FOREVER