Gerade erst ist James LaBries Solowerk IMPERMANENT RESONANCE erschienen, da steht auch schon das neue Dream-Theater-Album in den Startlöchern, mit dem die nordamerikanischen Prog-Metal-Meister ihr erstes Dutzend vollmachen. Warum gerade jetzt der Selbsttitel kommt, was das Ganze mit Schokotorte und T-Bone-Steaks zu tun hat und welches Problem Steven Wilson mit der ganzen Sache hat, erörtern wir beim Kaffeeklatsch mit Sänger LaBrie und Gitarrenvirtuose John Petrucci.
Wo ist der Kaffee?!“ Bevor James LaBrie und John Petrucci auch nur daran denken können, an diesem freundlichen Augusttag in einem Berliner 5-Sterne-Hotel (wer kann, der kann) Interviewfragen zu beantworten, brauchen sie (legale) Aufputschmittel. „Wir sind noch auf Ostküstenzeit“, erklärt Gitarrist Petrucci, der erst am Vortag mit Sänger LaBrie aus den Staaten eingeflogen ist, um Rede und Antwort zum zwölften Dream-Theater-Album zu stehen, das den schlichten Titel DREAM THEATER trägt. Und auch wenn die Frage so offensichtlich ist wie das Ergebnis einer Dopingprobe im Radsport, muss sie gestellt werden: Warum ein selbstbetiteltes Album? Und warum jetzt? Wäre das Statement nicht stärker gewesen, wenn man es mit dem ersten Post-Portnoy-Album, sprich: dem Vorgänger A DRAMATIC TURN OF EVENTS von 2011 gebracht hätte? Mit ihrem abtrünnigen Ex-Drummer hat das alles jedoch gar nichts mehr zu tun – dieses Kapitel ist laut LaBrie und Petrucci seit dem programmatisch betitelten und therapeutischen „Übergangsalbum“ (LaBrie) abgehakt. Es geht um ein völlig anderes Statement. „Wir sind immer noch so euphorisch und leidenschaftlich wie früher – wenn nicht sogar noch mehr“, erklärt Petrucci, der ein paar Prozent frischer wirkt als Kollege LaBrie. „Bei diesem Album war es von Anfang an unser Ziel, das Beste abzuliefern, was wir drauf hatten. Das ist wie bei BMW – wenn du ein Modell entworfen hast, willst du beim Nachfolger auch darauf aufbauen und alles verbessern. Das Album einfach nach uns selbst zu benennen, sagt für mich genau das aus.“ Dream Theater: BMW des Prog-Metal?!
Ohnehin ist Petrucci ein großer Freund der gepflegten Metapher – in einem online veröffentlichten Studioreport zum neuen Album sagte er beispielsweise: „Die Gitarre muss wie ein saftiges Stück Schokotorte klingen.“ Mit diesem Zitat konfrontiert, brechen die langhaarigen Kaffeeschlürfer plötzlich in Gelächter aus. „Wenn es um Gitarren geht, kennt meine Fantasie keine Grenzen“, verspricht der Teufelsklampfer. „Die anderen machen sich immer darüber lustig, aber Gitarristen verstehen, was ich mit Aussagen wie ‚Mann, diese Note war richtig schön matschig und hatte dieses dunkle, flüssige Gefühl‘ meine.“ „Das war T-Bone, Mann!“, brüllt plötzlich von der anderen Ecke des Sofas LaBrie, bei dem das Koffein endlich im Schädel anzukommen scheint. „Genau!“, kontert Petrucci. „Das Riff klingt wie ein saftiges Stück Steak – ich liebe es, wenn man es am Hintern in Scheiben schneidet, als würde man mit einem Pfahl auf Beton dreschen! Das ist ein Gitarrencode, den kaum einer versteht. Mit der Schokoladentorte wollte ich einfach nur verbildlichen, dass es viele unterschiedliche Schichten haben soll.“ So oder so: Die wilde Back-Session im Dream-Theater-Labor war ein voller Erfolg – die einzelnen Songs selbst weisen viele Schichten mit irrsinnigen dynamischen Spannweiten auf, und auch zwischen den Tracks gibt es jede Menge Reibung und Spannung. Klingt ein Song wie ›The Bigger Picture‹ beispielsweise nach einer wunderbar süßen Marmeladenschicht, wird mit ›Surrender To Reason‹ gleich ein fleischiges Nackensteak darübergelegt. Und das wiederum wird mit dem zuckrigen Vanillepudding ›Along For The Ride‹ bestrichen. Was kulinarisch ziemlich eklig klingen mag, ist aus musikalischer Sicht eins der faszinierendsten Dream-Theater-Alben überhaupt.
Zurück zur Ausgangsfrage, denn so wirklich ist ehrlich gesagt immer noch nicht klar, inwiefern der Titel DREAM THEATER ausdrückt, dass dieses Album mit der Intention angegangen wurde, alles besser zu machen – ist das nicht immer bei jedem Album das Ziel, unabhängig von der Frage, ob man es letztlich auch erreicht? „Lass es mich so sagen“, erwidert Petrucci: „Wenn du Stärke zeigen willst, dann tust du das, indem du ein Statement machst. Wenn du jedoch etwas tust, das dieses schmälert oder verdünnt, dann ist es nicht mehr so stark. Unser Statement mit diesem Album ist: Das ist Dream Theater, stark und stolz. Wenn der Albumtitel komplizierter wäre, denkst du automatisch mehr darüber nach: A DRAMATIC TURN OF EVENTS – was ist das? Der Titel DREAM THEATER hingegen ist kraftvoll und sagt: Das ist es, worum es bei uns geht.“ Gut, nehmen wir es einfach so hin. Vielleicht passt es ja auch deswegen ganz gut, weil Portnoy-Nachfolger Mike Mangini diesmal zum ersten Mal aktiv in den kreativen Prozess der Albumentstehung eingebunden war. Mit ihrem selbstbetitelten Album stellen Dream Theater den Tacho also noch einmal auf null, schütteln die Vergangenheit endgültig ab und starten mit einer neuen fixen Besetzung und viel Schokotorte im Gepäck frisch durch.
Findet auch LaBrie, der DREAM THEATER als einen Neubeginn für die Band bezeichnet. „Mike diesmal von Anfang an dabei zu haben, war wirklich unglaublich cool“, erinnert er sich an die ersten kreativen Momente. „Und glücklicherweise war er auch überhaupt nicht zurückhaltend oder eingeschüchtert, als wir erstmals gemeinsam ins Studio gegangen sind. Ich denke, das lag daran, dass wir vorher eine ganze Tour zusammen gespielt haben und uns als Menschen und Musiker kennen lernen konnten. Beim Schreiben des neuen Albums hat er sich dann sofort ohne Hemmungen eingebracht und ist zu einem wahren rhythmischen Rückgrat dieser Band geworden. Der Typ ist ein verrückter und gleichzeitig sehr musikalischer Drummer.“ Auch Petrucci zeigt sich begeistert von Manginis Einfluss auf das neue Album und ist sich sicher, mit dem ehemaligen Annihilator- und Steve-Vai-Trommler die richtige Wahl getroffen zu haben. „Als wir das letzte Album schrieben, haben wir die Drums noch auf dem Computer programmiert. Diesmal haben wir uns alle hingestellt und mit einem voller Energie steckenden Drummer gejammt, der unsere Riffs weiterentwickelt und auf neue Levels geführt hat. Das war ein unglaubliches Glück für uns, denn es hätte ja auch passieren können, dass er ins Studio kommt und sagt ‚öh… ich habe gar keine Ideen!‘ – wir hatten den Kerl ja auch erst zwei Jahre vorher kennen gelernt. Aber er war unglaublich kreativ und spontan, hatte viele Ideen und Meinungen sowie tonnenweise Persönlichkeit.“ Indem sie den neuen Trommler über den grünen Klee loben, sagen Petrucci und LaBrie damit auch gleichzeitig etwas über den alten? Kann man vielleicht so sehen, muss man nach drei Jahren Trennung von Portnoy aber eigentlich auch nicht mehr. Portnoy ist Vergangenheit, Mangini die Gegenwart und Zukunft. Und dass er einen belebenden Einfluss auf die Band hatte, daran lässt das verspielte und frische DREAM THEATER ohnehin überhaupt keinen Zweifel.
Bei aller Spontaneität und Verspieltheit verfolgt die amerikanischen Prog-Meister jedoch von jeher auch der Ruf des Perfektionismus. Was bei etwas so Emotionalem wie Musik nicht immer nur positive Konnotationen hervorruft. „Zu einem gewissen Teil stimmt das mit dem Perfektionismus“, meint Petrucci. „Wenn wir etwas aufnehmen, das sehr technisch ist, dann wollen wir das natürlich so exakt wie möglich spielen und nicht einfach nur schlampig raushauen. Doch wenn wir herumspielen und schreiben, kommt alles aus dem Bauch heraus, dann sind wir alle sehr instinktiv. Unser Keyboarder Jordan ist zum Beispiel ein großartiger Improvisator. Als wir beim letzten Album-Track ›Illumination Theory‹ am Ende dieses Queen-artige Riff einbauten, sagte er einfach nur ‚lasst mich mal was ausprobieren‘ und hat dann spontan dieses fantastische Solo rausgehauen. Ich meinte nur: ‚Ich hasse dich!‘“ (lacht) Eins seiner Soli hat er sogar auf dem iPad gemacht, und wir sind durchgedreht: ‚Wie zur Hölle hast du das gemacht? Bist du überhaupt menschlich?‘ Auch er ist natürlich sehr technisch, aber wenn er ein Solo spielt, geht der Jimi Hendrix mit ihm durch. Ich denke, du brauchst diesen Rock‘n‘Roll-Spirit als Band und darfst nicht so klinisch an alles herangehen.“ Und nur weil Musiker wie John Petrucci oder Jordan Rudess solch außergewöhnliche musikalische Fähigkeiten besitzen wie nur wenige ihrer Kollegen im Rock-Business, heißt das ja noch lange nicht, dass ihre eklektische, vielschichtige und überbordende Musik weniger Seele hätte. Doch wer viel kann, erntet nun mal oft viel Neid.
Und an dieser Stelle machen wir einfach mal ein Fass auf. Ein kleines, aber ein Fass: Als wir kürzlich bei einem Sommerfestival Prog-Autodidakt Steven Wilson im Interview hatten und die Sprache auf die Relevanz von musikalischer Erziehung kam, sagte er Folgendes: „Die Musiker, die aus Musikschulen kommen, gründen normalerweise eine Jazz-Fusion-Band oder Bands wie Dream Theater. So etwas machst du, wenn dir beigebracht wurde, Musik zu spielen, die beinahe mathematisch und technisch ist. Niemand will solche Musik hören.“
Vielleicht ist es nicht unbedingt nett, Petrucci und LaBrie nun mit dieser Aussage zu konfrontieren. Doch immerhin ist sie gefallen – und Wilson hätte den Namen Dream Theater ja auch nicht in den Mund nehmen müssen, sondern stattdessen schön neutral „eine technische Prog-Metal-Band“ sagen können. Hat er aber nicht. Petrucci nimmt die Kollegen-Kritik allerdings ziemlich lässig zur Kenntnis. „Das sehe ich natürlich völlig anders. Auch wenn jeder in unserer Band musikalisch ausgebildet ist, sind wir letztlich sehr intuitive Musiker. Mit diesem musiktheoretischen Wissen und der praktischen Erfahrung kannst du viel besser improvisieren, mit anderen zusammenspielen und dich wie ein Chamäleon auf musikalische Situationen einstellen. Du hast einfach einen viel größeren Sprachschatz. Für mich zieht das Argument nicht, dass die Musik keine Seele hat, wenn man technisch spielt und ein Perfektionist ist. Fuck that! Du kannst mit technischer Perfektion spielen und tonnenweise Seele und Unvollkommenheit in deiner Musik haben! Ich denke, dass unsere Fans genau deswegen eine Beziehung zu uns aufbauen können: Wie sind nicht klinisch, sondern ausdrucksvoll. Es kommt aus dem Bauch. Das Training verbessert nur deine Fertigkeiten, doch deine Identität als Musiker wird dadurch nicht beeinträchtigt. Das ist ja so, als würde man sagen: Jemand, der auf der Kochschule war, kann kein originelles und außergewöhnliches Essen zubereiten – nur weil er dort die Grundlagen gelernt hat. Es kommt alles auf dein Talent und deinen Ansatz an.“ Haut er jetzt mit Absicht wieder eine kulinarische Metapher raus? Man weiß es nicht. In jedem Fall wäre es mal interessant, Steven Wilson mit Dream Theater an einen Tisch zu setzen und über das Thema „Instinktmucker vs. ausgebildeter Musiker“ diskutieren zu lassen. Vermutlich sollte man einen Erstehilfekasten bereitlegen. Auch wenn LaBrie noch einmal betont, dass man mit Wilson eigentlich stets gut klar kam und er nicht verstehe, warum dieser so respektlos war, Dream Theater als Negativbeispiel einer übertechnisierten Band beim Namen zu nennen. Letztlich bloß eine Randbemerkung, die dem Briten vermutlich nur so rausgerutscht ist. Die aber auch zeigt, wie Dream Theater mit ihren exzessiven Soundkreationen mitunter wahrgenommen und mit allerlei Vorurteilen belegt werden. Und die Meinung, dass niemand „solche Musik“ hören wolle, hat Wilson zudem wohl auch ziemlich exklusiv.
Den Amis und ihrem „Canadian Bacon“ LaBrie kann es letztlich egal sein – sie müssen schon längst niemandem mehr etwas beweisen. Noch nicht mal Steven Wilson. Schöbe dieser das DREAM THEATER-Album in den Player, hörte er darauf nämlich eine Band, die auf dem Zenit ihres Könnens angelangt ist und, auf einer gut 25-jährigen Bandgeschichte aufbauend, ihren unverwechselbaren Stil einen weiteren Schritt in Richtung Perfektion geführt hat. Von Song zu Song hangelt sich das zwölfte Album der Prog-Aushängeschilder zwischen saftigen Rock-Riffs und melancholischen Momenten changierend zur finalen Klimax ›Illumination Theory‹ empor, die als Song-Mikrokosmos im Album-Makrokosmos in cineastischer Breite alles aufbietet, was diese Band musikalisch zu bieten hat – und dafür braucht es nun mal epische 22 Minuten. „Wir hatten ganz klare Vorstellungen, was wir alles auf dem Album haben wollen“, outet Petrucci die neue Scheibe dann doch noch ein bisschen als zumindest grob durchgeplantes Konstrukt. „Es sollte hart sein, ein Instrumental und ein Epos enthalten und eine klare Entwicklung haben, ein Crescendo. Auch vom Klang her ist es deutlich härter: Ob Gitarren, Drums oder Bass – alles ist mehr im Vordergrund als sonst. ‚Alles laut‘ war diesmal unser Motto.“
So sehr die Entstehung von DREAM THEATER auch von spontanen Momenten und epischen Jam-Sessions gezeichnet war, ist es also auch einem strikten Arbeitsplan entsprungen. Zuallererst traf sich die gesamte Band in den Cove City Sound Studios in Glen Cove auf Rhode Island, um Ideen zusammenzutragen und eine klare Richtung auszubaldowern. Auf ein gigantisches Board heftete man zig Post-its mit Ansätzen und Gedanken, die sich schließlich zu einem großen Ganzen verdichteten. „Ich finde es wichtig, dass man am Anfang gemeinsam in der Gruppe klarstellt, dass alle das gleiche Ziel verfolgen. Wenn du ein Schiff baust, kann es nicht sein, dass irgendwann jemand sagt: ‚Oh, wir bauen ein Schiff? Ich dachte, es wird eine Schaukel!‘ Jeder muss von Beginn an wissen, welche Art von Album wir machen wollen. Wenn das ausdiskutiert und durchgeplant ist, steigen wir in den kreativen Prozess ein – und ab da weiß man ohnehin nie, was passieren wird.“ Bemerkt? Petrucci hat mal wieder seiner Lieblingsbeschäftigung gefrönt und eine 1a-Metapher rausgehauen. Inzwischen ist übrigens auch LaBrie endgültig im Tag angekommen und möchte ebenfalls noch etwas zum neuen Album sagen. Aber gerne doch, lieber James! „Jedes Album in unserer Karriere hatte ein bestimmtes Ziel, es geht immer darum, einen Schritt nach vorne zu machen. Auch dieses Album ist wie eine Kristallkugel, es zeigt, was bei jedem von uns individuell und auch in der Band als Ganzes abging, als wir DREAM THEATER schrieben. Was in deinem Leben vor sich geht, hat einen starken Einfluss auf die Art und Weise, wie du dich ausdrückst. Es schmilzt in diesem Kessel zusammen und wird zu deiner Musik, zu deinem Ausdruck. Und jetzt freuen wir uns darauf, dieses Ergebnis zu unseren Fans zu bringen, ihre Reaktionen zu bekommen und es dann Nacht für Nacht live zu ihnen zu bringen. Das ist doch eine wunderschöne Realität. Und wenn wir am Ende denken ‚Yeah, wir haben es wieder geschafft!‘, dann werden wir das solange wie möglich weitermachen. Gebt mir einen Gehstock und einen Rollstuhl und ich mache es bis zum Schluss!“ Aber nur, wenn es genug Kaffee gibt.
Ben Foitzik