Zwölf Monate, hunderte von neuen Alben, tausende von Songs – gute, schlechte, grandiose Stücke. Wer kann da den Überblick behalten? Gut, dass es die CLASSIC ROCK-Redaktion gibt. Wir haben uns auf Zeitreise begeben, uns für euch angestrengt erinnert, haben gesammelt, recherchiert, diskutiert, bewertet und auch gekämpft. Das ist dabei herausgekommen: die 50 besten Alben des Jahres 2020!
Texte: Jacqueline Floßmann, Henning Furbach, Matthias Jost, David Numberger, Paul Schmitz, Markus Werner, Michael Wolf
5
Chris Stapleton, STARTING OVER, UNIVERSAL
Eine neue Country-Zeitrechnung startete vor fünf Jahren. Da legte ein haariger Brummbär bei den CMA Awards eine Siegesserie hin und sang bei seiner Performance von ›Tennessee Whiskey‹ seinen Duett-Starpartner Justin Timberlake an die Wand. Chris Stapleton, das merkte auch das US-TV Millionenpublikum, war der real deal. Am nächsten Montag war sein Debüt TRAVELLER landesweit vergriffen. Es steht heute bei unglaublichen 3 Millionen Verkäufen. Aber der Spätstarter, bis dahin als Frontmann von Kennerbands (z. B. The Steel Drivers) und Nashville-Hitschreiber hinter den Kulissen aktiv, hat sich mit seinem rasanten Ruhm nie richtig angefreundet. Als wollte Stapleton seine neuen Mainstream-Fans wieder ausfiltern, waren FROM A ROOM VOL. 1 bzw VOL. 2 (beide 2017) nichts Halbes und nichts Ganzes. Wenn man so will, ist STARTING OVER endlich der wahre Nachfolger von TRAVELLER. Die Platte, mit der sich der Millionenseller seiner Rolle als Aushängeschild des „real Country“ für die Massen stellt, sie bewusst ausfüllt und ein Statement setzt. Auf der er einen Rundumschlag abgibt, von räudigem Southern Rock über filigrane Americana und deftigen Roots-Blues alles abdeckt – und das immer enorm gekonnt. Bei einer Produktion, die ihr Budget gerne ausschöpft
(›Cold‹ ist halb Delta-Blues, halb Bond-Theme), aber auch weiss, wann sie sich zurückhalten muss (siehe den feinen Folk von ›Joy Of My Life‹).
Anspieltipp: ›Arkansas‹ (Henning Furbach)
4
Ozzy Osbourne, ORDINARY MAN, SONY
Just an dem Tag, an dem dieser Text geschrieben wurde, hätte Ozzy Osbourne das München-Konzert
seiner „No More Tours 2“-Tour geben sollen. Das schon einmal verschobene wohlgemerkt, denn ursprünglich hätte der Event bereits 2019 stattfinden sollen. Erst Lungenentzündung, dann Corona
– nun wurde das LiveSpektakel gleich für 2022 angesetzt. Ob der MetalMonolith mit einer Vorliebe für Fledermäuse und Ameisen das überhaupt noch erleben wird? Schon vor dem Release des sehnsüchtig erwarteten ORDINARY MAN am 21. Februar ließ der Prince Of Darkness im Januar dieses Jahres verlauten, er habe Parkinson (was bereits 2019 diagnostiziert wurde). Kein Wunder also, dass sich die
Platte von der ersten bis zur letzten Note wie ein Abschied anhört. Ozzy zieht seine Lebensbilanz, zeigt sich reuevoll, aber auch kämpferisch, und stellt sich fortwährend die Sinnfrage. Oder rätselt, wie sich das mit dem Leben nach dem Tod wohl anfühlen mag. Trotzdem ist dieses Requiem-hafte Werk alles andere als weinerlich. Im Gegenteil: Ozzy hatte schon lange nicht mehr so viel gute Songs auf einer Platte. Ob das mit Sir Elton John eingespielte, beatleseske Titellied (GänsehautAlarm!), das fies rockende ›Under The Graveyard‹ oder die stark an amerikanische Soundpattern angelehnte Dystopie ›Today Is The End‹: Ozzy serviert einen Knaller nach dem anderen. Selbst eine vermeintliche Markt-Anbiederung wie das von Post Malone aufgepeppte ›It’s A Raid‹ funktioniert im Ozzy-Universum. Noch
einmal die Sau rauslassen: ORDINARY MAN gerät trotz Schwanengesangsattitüde zum ultimativen Diary of a madman!
Anspieltipp: ›Under The Graveyard‹ (Markus Werner)
3
Psychedelic Furs, MADE OF RAIN, COOKING VINYL/SONY
Sie standen nie in der ersten Reihe, wurden nie zu den ganz großen Ikonen der 80er gerechnet und hatten nie den einen Hit, der auch weniger beleckten Zeitgenossen bis heute ein Begriff wäre – doch es sagt viel über die tatsächliche Bedeutung der Psychedelic Furs aus, dass fast 30 Jahre nach ihrer letzten Platte mit neuem Material noch einiges Aufhebens um ihre Rückkehr gemacht wurde. Das mag zum einen daran liegen, dass sie bei ihren Fans dank einigermaßen fleißiger Live-Aktivitäten über die vergangenen 15 Jahre hinweg nie ganz in Vergessenheit gerieten. Vor allem aber ist es der Tatsache geschuldet, dass ihr anhaltender musikalischer Einfluss sich erst aus der Distanz der Dekaden offenbarte. Zahllose Acts nennen sie heute als Inspirationsquelle, und in jeder Band des neuen Millenniums, die in Richtung Wave und 80s-Indie schielt, kann man die Spuren von Richard Butler & Co. hören. Was natürlich längst nicht automatisch heißt, dass man anno 2020 noch ein neues Album
der Briten braucht. Wie so oft bei kultisch verehrten Formationen, die nach langer Schaffenspause wieder ein kreatives Lebenszeichen von sich geben, lautet die bange Frage also: Kann das dem Vermächtnis irgendetwas Hörenswertes hinzufügen oder schmälert es eher dessen Relevanz? Und wird das dann zu einem irritierenden Versuch, sich seinen Platz in der Gegenwart mit gezwungen klingender Trendsurferei zu erkämpfen, oder gar nur ein platter Abklatsch vergangener Ruhmestaten? In diesem Fall ist so ziemlich das Beste daraus geworden, was man sich erhoffen konnte. Auf MADE OF RAIN können die Psychedelic Furs ihr größtes Ass im Ärmel nämlich effektvoll wie nie ausspielen: Sie hatten schon immer ihren ganz eigenen Sound, der sich nie wirklich einer Stilrichtung oder Epoche zuordnen lassen musste. Und so gelingt ihnen das äußerst rare Kunststück, auf Anhieb vertraut und eigentlich wie immer zu klingen, aber dennoch frisch, zeitgemäß und sogar energiegeladen wie selten zuvor. Eine
mehr als willkommene Rückkehr also – und ein Paradebeispiel für die Tatsache, dass wahre Klasse kein Alter kennt.
Anspieltipp: ›You’ll Be Mine‹ (Matthias Jost)