10 Roger Waters
IS THIS THE LIFE WE REALLY WANT?
Columbia/Sony
Roger Waters blickt 2017 tief ins Innere des Menschen und weit über den gesamten Globus hinaus, seine Aussichten dabei sind allesamt finster. Dieses, sein Resümee über den Ist-Zustand der Menschheit und ihrer Heimat Erde vertonte der ehemalige Pink-Floyd-Co.-Chef in den vergangenen zweieinhalb Jahren in Form eines halb düsteren, halb gleißend leuchtenden Albums, das sich und uns die alles entscheidende Existenzfrage stellt. Der Zeitpunkt für diese zwölf durch Tondokumentschnipsel und Soundeffekte verbundenen, inhaltlich und stellenweise auch kompositorisch zu einem Konzept-Opus verwobenen Songs könnte nicht passender gewählt sein. Seit seinem Solo-Vorgänger AMUSED TO DEATH von 1992 hatte sich Waters lange Zeit gelassen und stößt jetzt genau richtig mit IS THIS THE LIFE WE REALLY WANT? in die Wunde einer gesellschaftlichen Krankheit, deren Symptome den Höhepunkt ihrer Ausprägung erreicht zu haben scheinen. Der Macht der Dummheit und der galoppierenden Verrohung setzt Waters seine mächtigste musikalische Waffe entgegen: Mit allerhand Stilmitteln aus der weitläufig beliebtesten Pink-Floyd-Phase von THE DARK SIDE OF THE MOON, über WISH YOU WERE HERE zu ANIMALS scheint Waters mit aller Kraft ein Maximum an Zuhörerschaft generieren zu wollen, wodurch letztlich ein wie aus der Zeit gerissenes Album entstand, das ebenso gut der direkte Nachfolger obengenannter Meisterwerke sein könnte. Neben altbeliebtem Orgel- und Synth-Gewaber, einem sehr direkt abgenommenen Drumset und einem sentimentalen Piano versieht Waters seine deprimierten Sprech- bis wütenden Brüll-Parts mit einem (Akustik-)Gitarren-Sound, der einen sogar den abwesenden David Gilmour zurück vermuten lässt. Perfektes Neumaterial also, das Roger Waters bei seinen acht Deutschland- und Österreich-Shows im Rahmen seiner „Us + Them“-(Anti-Trump-)Tour im kommenden Frühsommer in die Setlist zwischen Klassikern wie ›Breathe‹, ›Time‹, ›Welcome To The Machine‹, ›Pigs (Three Different Ones)‹ und ›Wish You Were Here‹ einflechten kann.
Anspieltipp: ›Smell The Roses‹, ›Wait For Her, ›Oceans Apart‹, ›Part Of Me Died‹
(Paul Schmitz)
9 Mark Lanegan Band
GARGOYLE
Pias/Rough Trade
Narrenfreiheit ist ein rares Gut, und eines, das weise genutzt werden will. Man kann sie nämlich auch wieder aberkannt bekommen. Mark Lanegan läuft derzeit jedoch keine Gefahr, diesen Status zu verlieren. Der Mann, der mit Lava zu gurgeln scheint, kann sich immer noch alles erlauben – auch ein Album aus fast ätherischem Psycho-Wave-Rock, das den messianischen Hall von U2 in ein ungleich faszinierendes, mystisches Gewand packt und dabei trotzdem nicht die Songs vergisst. Einzigartig.
Anspieltipp: ›Beehive‹
8 The Magpie Salute
THE MAGPIE SALUTE
Eagle Rock/Universal
Wenn zwei sich streiten … kann es durchaus eine Menge Gewinner geben. Rockfans zum Beispiel. Okay, weder Chris Robinson noch sein Bruder Rich haben es bisher geschafft, ihre Großtaten mit den Black Crowes solo zu überbieten. Feine Musik haben sie aber beide seit dem Ende der Band gemacht. The Magpie Salute sind das neue Baby von Rich, und die haben eine Ode an die Warmherzigkeit des klassischen Südstaatenrock vollbracht, die mal packt, mal entrückt und immer verzückt. Herrlich!
Anspieltipp: ›Wiser Time‹
7 Chuck Berry
CHUCK
Decca/Universal
Als wäre es das eine, das er noch erledigen musste, schaffte es Berry noch vor seinem Tod im März, seinen musikalischen Abschied, sein erstes Album mit Eigenmaterial seit 1979 für die Nachwelt festzuhalten. Dem Stand des „wahren Vaters des Rock’n’Rolls“ durch und durch würdig – und stimmlich wie spielerisch in herausragender Frische für 90 Legendenjahre auf dem Buckel – packt, reizt, betört uns Chuck ein letztes Mal. Ruhe in Frieden!
Anspieltipp: ›Big Boys‹
6 Blondie
POLLINATOR
BMG Rights
Zu viele Köche verderben den Brei? Hier nicht! Dev Hynes, David Sitek (TVOTR), Johnny Marr, Nick Valensi (The Strokes) und mehr nahmen am neuen Blondie-Album hörbar aus Liebe teil. Wir hören gewitzte ›Heart Of Glass‹/›Hanging On The Telephone‹-Varianten, die nun ›Long Time‹ oder ›Monster‹ heißen. Für den Hörer eine spaßige Referenz-Schnitzeljagd und ein Jungbrunnen für Debbie Harry, Chris Stein & Co.
Anspieltipp: ›Long Time‹
5 The Americans
I’LL BE YOURS
Loose/Rough Trade
Es beginnt mit diesem Bandnamen. Ein Name, bei dem man sich fragt: „Das kann doch nicht sein? Ist wirklich noch niemand vorher auf die Idee gekommen, sich The Americans zu nennen?“ Das ist schlicht, schnörkellos und deckt doch alles ab. Genau wie die Musik auf I’LL BE YOURS, die ein famoser Rundumschlag durch all die amerikanischen Songtraditionen ist, die wir über die Jahrzehnte lieb gewonnen haben.
Wie aus dem Nichts schien dieses Album im Sommer auf unsere Schreibtische geflattert zu sein. Ganz ohne den üblichen US- oder UK- oder Blog-Hype, der Platten auf diesem Level normalerweise mit kleinen Vorbeben diesseits des Atlantiks ankündigt. Es war gar nicht so leicht, im Netz Informationen über dieses Quartett einzusammeln. Das war der Nachteil des Namens The Americans: nicht unbedingt googlefreundlich.
Jedenfalls, es zeigte sich: I’LL BE YOURS ist das zweite Album des Quartetts aus Los Angeles. Die vier hatten bereits prominente Fans: Jack White, T-Bone Burnett, Robert Redford, Ryan Bingham waren voll des Lobes. Für Nick Cave, Courtney Love und Lucinda Williams fungierten sie bereits als Backing Band. Die Gruppe besteht aus vier interessanten Typen: Drummer Tim Carr kommt vom Jazz, Bassist Jade Faulkner veröffentlicht Poesie auf seinem eigenen Verlag, Gitarrist Zak Sokolow trat schon als Kind auf Bluegrass-Shows auf, auch Sänger Patrick Farris lernte Country und Blues von seinem musikbegeisterten Vater. Alle spielen Banjo und liefern sich live auch mal einen Vierkampf im Karacho-Zupfen.
Da kommen also zahlreiche ur-amerikanische Einflüsse zusammen. Auf I’LL BE YOURS verkochen The Americans sie im Slowcooker zu einem Gumbo, bei dem sich alle Geschmacksrichtungen voll entfalten. Man hört die Note Springsteen genauso unverkennbar und unverfälscht raus wie die Note CCR. Hier ganz klar Rockabilly, dort eine Prise Cajun, hier ein Hauch Honkytonk-Piano und dort ein Stückchen Ryan-Adams-Alt.Country. Das Beste aus der amerikanischen Musik. Nicht grob zu einem Brei zerstampft, sondern als nuancenreiches High-End-Destillat. Wer das kann, verdient sich auch den Namen The Americans.
Anspieltipp: ›Stowaway‹
(Henning Furbach)
4 The Darkness
PINEWOOD SMILE
Cooking Vinyl/Sony
“All the pretty girls and their mums“ liegen Justin Hawkins zu Füßen. Das erklärt er gleich mal ganz unverblümt zu Beginn von PINEWOOD SMILE und wen wundert es wirklich? Der agile Frontmann von The Darkness hat sich schließlich schon vor THE LAST OF OUR KIND von 2015 nochmal besonders auf die Optimierung seiner musikalischen und vor allem ästhetischen Ausstrahlung konzentriert, hält die jetzt nach Zahnspangen-Behandlung in Reih und Glied stehenden Beißerchen stolz in die Kamera und sorgt damit nebenbei für das wohl witzigste Albumcover des Jahres. Doch dessen nicht genug: Die Umlagerung seines Suchtpotentials von Alkohol und Drogen zu exzessivem Sportbetrieb beschert dem Spaßmacher eine trainierte Konstitution, die er seither noch lieber in noch engeren und von Glanz und Gloria dominierten Einteilern zur Schau stellt. Gut nur, dass die Musik bei diesem optischen Firlefanz nicht auf der Strecke bleibt, sondern wieder verstärkt auf den wunderbar ironischen Nukleus von The Darkness rekurriert. Eine schlechte Platte haben die Engländer ja noch nie auf den Markt gebracht, aber PINEWOOD SMILE ist so dermaßen kompromisslos, zum Schieflachen komisch und voll von nachhaltigem Rock’n’Roll, dass sich schon nach wenigen Sekunden ein Lächeln auf dem Gesicht und ein Zucken in der Hüfte des Hörers ausbreiten muss. Angefangen bei ›All The Pretty Girls‹, welches vom „Leidwesen“ eines attraktiven Rockstars erzählt, über den australisch anmutenden Seitenhieb auf das Musikbusiness namens ›Solid Gold‹ hin zu knallharten Kandidaten wie ›Southern Trains‹: The Darkness meistern die 37 Minuten neuen Materials mit Bravour und halten dabei stets Maß zwischen Hommage und liebevoller Persiflage. Das Gefüge um die Gebrüder Hawkins inklusive Bassist Frankie (coolste Socke überhaupt!) und Neuzugang Rufus – Sohn von Queens Roger Taylor, dessen Gesicht übrigens Justins Fingerknöchel ziert – jedenfalls hat sein Versprechen „we’re never gonna stop shitting out solid gold“ mit PINEWOOD SMILE eingehalten.
Anspieltipp: ›Solid Gold‹
(Jacqueline Floßmann)
3 Black Country Communion
BCCIV
Mascot/Rough Trade
Es gab so viele Gründe, warum man nicht mehr darauf hoffen durfte, jemals wieder einen Tonträger von Black Country Communion in den Händen zu halten. Zum einen wäre da mal der Fluch der Supergroup: Wieviele Bands aus mehreren prominenten Mitgliedern sind je über ein, zwei Alben hinaus gekommen? Dass die Herren Hughes, Bonamassa, Bonham und Sherinian es bis zu einem Drittling geschafft hatten, schien schon wie ein Wunder. Der lag nun allerdings fünf Jahre zurück, und dessen Titel AFTERGLOW machte wenig Hoffnung auf einen potenziellen Nachfolger. Und dann war da noch der äußerst öffentlich ausgetragene Streit zwischen dem britischen Rock-Urgestein am Mikro und dem amerikanischen Blues-Titanen an der Gitarre, der das Kapitel endgültig abgeschlossen zu haben schien. Letzterer konnte sich angesichts seiner eigenen, sich prächtig entwickelnden Karriere nicht zu nennenswerten Live-Aktivitäten bewegen lassen, was Ersterer ihm ziemlich übel nahm. Irgendwie verständlich, denn erstens erwacht Rockmusik bekanntlich erst auf der Bühne zu echtem Leben, und zweitens bedeutet keine Konzerte heutzutage schlicht und einfach kein Einkommen. Kurzum: Nur die wenigsten rechneten damit, dass Black Country Communion überhaupt noch existierten. Aber das tun sie, und wie! BCCIV ist nicht nur ein Lebenszeichen, eine Erinnerung an Vergangenes, sondern eine mehr als selbstbewusste Rückkehr, ein unmissverständliches Manifest, das zu sagen scheint: Wenn wir was tun, dann richtig. Fingerübungen, Füllmaterial oder fahrige Halbherzigkeiten? Fehlanzeige. Dies sind zehn durchweg starke Tracks, durchtränkt von einer ansteckenden Energie, die Unwissende niemals vermuten lassen würde, in welchem Alter sich diese Herren befinden. Allen voran Glenn Hughes, dessen Gesangs-Performance über jeden Zweifel erhaben ist, und dann natürlich Joe Bonamassa, der sein Blues-Steckenpferd hier konsequent im Stall lässt und stattdessen mächtige Heavy-Rock-Riffs am Fließband abfeuert. Garniert mit Jason Bonhams Power-Drums und Derek Sherinians perfekt gesetzten Keyboard-Akzenten, entstand hier ein Album, das tatsächlich mehr ist als die Summe seiner Teile. Und das will bei diesen „Teilen“ wirklich was heißen!
Anspieltipp: ›When The Morning Comes‹
(Matthias Jost)
2 Ryan Adams
PRISONER
PaxAm/Universal
Platten, die im Winter erscheinen, haben ein Handicap, wenn die Jahrescharts aufgestellt werden. Wenn man sich im Dezember ans zurückliegende Jahr erinnert, kommen zuerst die Platten in den Sinn, die man mit dem Sommer verbindet. An denen ist man noch näher dran. Wenn es also eines weiteren Beweises bedurfte, dass Ryan Adams mit seinem 16. Studioalbum einen ganz besonderen Wurf gelandet hat, bittesehr: Unser Platz 2 wurde schon im Februar veröffentlicht. Die Wirkung dieser Songs hat seitdem offenkundig nicht nachgelassen. Auf eine Sache hat der wuschelige Grandmaster der Americana in den Interviews Wert gelegt: Nein, PRISONER solle bitte nicht als sein „Scheidungsalbum“ in die Geschichte eingehen. Aber hey, wir sind einfache Gemüter und Ryan schrieb diese Lieder ausgerechnet in jenen Monaten, als seine Beziehung zu Schauspielerin Mandy Moore auch in den offiziellen Dokumenten annuliert wurde. Lieder, die ›Do You Still Love Me‹, ›Breakdown‹ oder ›To Be Without You‹ heißen. Die Deutung, dass hier jemand seinen Herzschmerz auswringt, liegt nahe.
So eindimensional ist es jedoch beileibe nicht. Ryan Adams hat sich nicht ohne Hintergedanken in seinem Heimstudio verbarrikadiert bzw. sich bei einem New- York-Aufenthalt in einem dortigen Studio eingekerkert. Der Ex-Frontmann der 90s-Alt-Country-Pioniere Whiskeytown, der in der Vergangenheit auch für hemmungslose Alkohol- und Drogeneskapaden bekannt war, hat seine innere Aufgewühltheit ganz bewusst kreativ kanalisiert. Am Ende standen 80 Songs, von denen die zwölf besten auf PRISONER Platz fanden. Sie zeigen nicht nur einen Ryan Adams in Höchstform, wie er seinen Stil immer reiner destilliert, zur Perfektion beinahe, sondern auch eine gereifte Persönlichkeit. „Ich habe mir fest vorgenommen, durch diese Geschichte gut durchzukommen. Ich wollte nicht verbittert sein oder meinen Glauben ans Gute verlieren“, so Ryan. PRISONER dokumentiert den Erfolg dieser Mühe. Diese Songs geben den Tunnel schonungslos und detailgetreu wieder. Aber sie zeigen auch das Licht an dessen Ende.
Anspieltipp: ›Do You Still Love Me?‹
(Henning Furbach)
1 Neil Young
HITCHHIKER
Reprise/Warner
Es ist quasi seine Autobiografie, die Neil Young im Titelsong vorstellt. Der Kanadier erzählt von seinen ersten Erfahrungen mit Haschisch und Amphetaminen, von seiner Ankunft in Kalifornien und von wachsendem Ruhm: „The neon light and the endless night, they took me by surprise/The doctor gave me valium, but I still couldn’t close my eyes.“ Dann kommt Paranoia („I couldn’t sign my autograph or appear on TV“), die Flucht aufs Land hilft nicht so recht und die Liebe ist zerbrochen. Kein Trost, nirgendwo. Kokain soll ihm Linderung verschaffen, bis am Ende sein Kopf explodiert und er sich als Inka nach Peru wünscht.
Der Song, nur zu akustischer Gitarre und Mundharmonika gesungen, ist von einer rohen Intensität und Direktheit, die das ganze Album auszeichnet. Eigentlich hätte HITCHHIKER Mitte der 70er-Jahre erscheinen sollen, die Stücke wurden an einem einzigen Tag im August 1976 in den Indigo Studios in Malibu eingespielt. Young arbeitete rastlos, Pausen gab es nur für „Gras, Bier und Koks“, wie er sich in seinem Buch „Special Deluxe“ erinnerte. Dass er die Platte damals nicht herausbrachte, begründete er damit, dass er bei den Aufnahmen „reichlich angedröhnt“ gewesen sei, was man an seiner Performance höre. Tatsächlich kichert er einmal ver-dächtig, sein Gesang gerät bisweilen etwas quäkend und das Gitarrenspiel wirkt hin und wieder ein bisschen schludrig.
Doch das macht HITCHHIKER nur noch mehr zum Dokument eines Songschreibers, der ohne Schutzschild dasteht, den die Liebe verrückt macht, der über Politik nachgrübelt (legendär die Zeile: „Even Richard Nixon has got soul“), der die Natur besingt und den das Unrecht, das den amerikanischen Ureinwohnern geschehen ist, umtreibt. Und der darüber Klassiker wie ›Pocahontas‹, ›Powderfinger‹ oder ›Ride My Llama‹ schreibt. Fast alle davon sind auf späteren Young-Alben oder Live-Mitschnitten erschienen, hier sind sie in ihrer ursprünglichen Form versammelt. HITCHHIKER ist das verschollene Meisterwerk, auf das man hoffen durfte.
Anspieltipp: ›Hitchhiker‹
(David Numberger)