10 Baroness
PURPLE
(Vertigo/Universal)
Kaum eine andere Band verfügt über ein solches Maß an Größe, Schwere und Pathos wie Baroness, die 2015 mit PURPLE ihre Bestform neu nach oben definiert haben und sich hoch künstlerisch zu gleichen Teilen dem alternativen Metal, Classic Rock und Progressive Rock hingeben.
9 Nathaniel Rateliff & The Night Sweats
NATHANIEL RATELIFF & THE NIGHT SWEATS
(Caroline/Universal)
Klar, es ist ein Hit, der uns mit den beiden magischen Begriffen „Son of a bitch“ und „Drink“, die Lausbubenohren spitzen ließ. Allerdings bietet der scheinbar neugeborene, einst musikalisch grenzwertig depressive Nathaniel mit seiner Rock’n’Soul-Truppe viel mehr: Den Groove tief in sich tragend, achtet Rateliff die Tradition der großen R&B-Revue-Zeiten und vereint zeitgleich die schnodderige Art eines Joe Cocker mit einer selten unangestrengten Leichtigkeit.
9 Ghost
MELIORA
(Spinefarm/Universal)
Als Ghost die Musik erschufen, hatten alle Engel Flügel und der Teufel war das Nippes-Maskottchen im Black Metal. Papa Emeritus III. ist so etwas wie der Staubsauger Gottes. Dieser singende Bischof führt dabei ein reinliches Regime. Die Band, die aus getreuen Dienern besteht, liefert dazu eine Heavy Eucharistiefeier. Der als Bischof verkleidete Frontmann inszeniert sich wie ein geistlicher Würdenträger, der Hostien und den heiligen Gral unter den gottlosen Jüngern verteilt. Ihr erstes Album OPUS EPONYMOUS (2010) war vielleicht noch nah am klassischen Metal, so hatte der zweite Streich INFESTISSUMAM (2013) einen leichten Gothic-Touch. MELIORA ist Werk Nummer drei. Der Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutet in etwa „Behüte uns.“ Musikalisch haben Ghost das Beste aus dem prähistorischen Mainstream-Rock von The Doors bis hin zu Blue Öyster Cult zu einem großen Ganzen zusammen gewoben. Journey-Gitarren werden mit Kirchenorgeln und Richard-Wagner-Kitsch zu einem Mosaik arragangiert. Dazu orchestraler Quatsch mit Augenzwinkern: das Ticken einer historischen Wanduhr, Mönchs-Chorale oder ein barockes Harfen-Menuett. Das Intro ›Spirit‹ klingt vielleicht nach einem Edgar-Wallace-Film-Remake. ›He Is‹ ist das Herzstück des Albums. Zuerst sollte dieser Song bereits vor ein paar Jahren erscheinen, doch die Band glaubte, er sei zu poppig. Der ehemalige Devil’s-Blood- Frontmann Selim Lemouchi drängte die Band förmlich, diesen Song zu veröffentlichen. Diese Nummer ist ein bestechender Ohrwurm. Folkige Jethro-Tull-Gitarren durchpflügen die Strophe, und Streicher-Keyboards, wie sie sonst nur Giorgio Moroder nutzt, setzen Akzente. Dazu ein Richard-Claydermann-Klavier. Das ist irgendwie Yacht-Rock mit sakralem Unterton, zu dem Eugen Drewermann theologische Witze erzählt. Doch es wird noch schlimmer kommen. Als die Schlange Adam, Eva und die Nameless Ghouls im paradiesischen Exil verführt hatte, verfluchte die heilige Jungfrau das Reptil. Es sollte kriechen und den Staub der Erde fressen. Hosianna!
Peter Hesse
7 The Darkness
LAST OF OUR KIND
(Canary Dwarf/Rough Trade)
Das Comedy-Element ist seit der Reunion der Hawkins-Brüder 2011 weitestgehend gewichen, nicht aber Selbstironie und fabelhaft melodisches Songwriting. Besonders in letztgenannter Disziplin ist LAST OF OUR KIND wohl eines der stärksten Alben des The Darkness-Katalogs. Mit Roger Taylors Sohn Rufus am Schlagzeug scheint die Band außerdem nun auch für künftige Streiche gefestigter denn je.
6 Def Leppard
DEF LEPPARD
(earMUSIC/Edel)
Nicht nur ausgiebiges Touren ließ Def Leppard 2015 erneutes, weltweites Aufsehen erregen, auch ihr selbstbetiteltes Album brachte sie zu alten Ruhmeshöhen. Das prophezeite bereits dessen Name, der nicht passender hätte gewählt sein können: Derart hochkonzentriertes, unverkennbares „Def Leppard“ auf einer Scheibe gab es zuletzt wohl auf HYSTERIA.
5 Faith No More
SOL INVICTUS
(PIAS/ROUGH TRADE)
Kings for a lifetime!
Ja, Comebacks. Auch in dieser Liste sind sie gut vertreten. Keith Richards begeisterte mit seinem ersten Soloalbum seit Äonen nicht nur Stones-Fans, Jeff Lynne zeigte mit dem neuen ELO-Werk, dass er zeitlose Melodiekunst wie kein Zweiter beherrscht. Natürlich standen diesen gefeierten Werken mindestens dreimal soviele Lebenszeichen jahrelang verschollener Acts gegenüber, die besser verschollen geblieben wären – und dass Faith No More sich nicht dazu zählen lassen mussten, war die vielleicht schönste Überraschung des Jahres. Zweifel waren durchaus berechtigt. Mike Patton hatte in den fast zwei Jahrzehnten seit dem Ende der Band teils kaum anhörbare, teils gefährlich Richtung Comedy streunende und fast ausnahmslos unkommerzielle Musik veröffentlicht, während die übrigen Mitglieder sich mehr oder weniger komplett aus dem Rampenlicht zurückzogen. Konnten sie nach so langer Zeit noch in die Rolle der irreverenten Rock-Derwische schlüpfen, die so einzigartig genial gleichzeitig karikieren, modernisieren und brillieren? Die Antwort hätte nicht triumphaler ausfallen können, obwohl man keinen Millimeter vom bewährten Rezept abwich: unantastbare Songs, bissiger Wortwitz, nie aufgesetzt wirkender musikalischer Eklektizismus, die wahnwitzig elastische Stimmbandakrobatik eines Jahrhundert-Frontmanns und das famose Talent, die Kunst zu 200 Prozent, sich selbst aber kein bisschen ernst zu nehmen. SOL INVICTUS führte Faith No More zurück auf einen Thron, den ihnen in ihrer Abwesenheit nicht mal jemand streitig zu machen gewagt hatte. Die Fans waren sofort wieder an Bord und riefen verzückt: We care a lot! Jetzt und für immer.
Matthias Jost
4 Motörhead
BAD MAGIC
(UDR/Warner)
In 40 Jahren Motörhead-Geschichte (eines der bedeutendsten runden Jubiläen 2015) hieß es aus Lemmys Kratzhals zu Beginn einer jeden Live-Show: „We are Motörhead and we play rock’n’roll!“ In diesem Jahr ist das anders. Und das kann einem schon Angst einflößen. Erst vor dem letzten Song bringt der Rock-Heilige seinen Ur-Gruß, eingeleitet von einem beinahe melancholischen „Don’t forget us!“ Will sich Kilmister, der ein aufgrund gesundheitlicher Probleme für die Band wahrhaft erschütterndes Jahr hinter sich hat, womöglich gar verabschieden? Ist er sich nach dem Tod seines Ex-Drummers Phil Taylor, der ihn schwer getroffen hat, seiner eigenen Sterblichkeit bewusster geworden? Wir hoffen natürlich nicht, doch sollte das der Fall sein, hätten Motörhead mit ihrem 23. Album einen absolut würdigen letzten Schlag gesetzt. Mehr als auf den meisten Platten der vergangenen 20 Jahre ist auf BAD MAGIC die stärkste Motör-Charakteristik neben ihrer ungehobelt brachialen Gewalt vertreten: Eine jede Faser der zwölf Songs ist von Lemmys unerreichter Kompositionsgabe durchsetzt. Der wüste Engländer-Dreier war nie eine Hit-Band, eher trat Lemmy viele seiner hookigsten Werke an andere Künstler ab, als sie selbst zu benutzen. Doch für BAD MAGIC behielt er sie für sich, Mickey Dee und Phil Campbell, und da wird klar: Hinter all dem wundervollen Lärm verbirgt sich eine der besten Bands für feine Rock’n’Roll-Melodien. … Stopp, das darf hier kein Abgesang werden! Immerhin wollen wir nicht glauben, dass das allerletzte Stück, das wir jemals vom größten Beatles-Fan der Welt hören werden ein – klar geniales – Cover von ›Sympathy For The Devil‹ sein soll. Wie wäre es lieber mit weiteren Alben in den nächsten zehn Jahren? Als passenden Schlussakkord würden wir dann ›The End‹ der Fab Four vorschlagen. (Leider ist dieser Text, der vor dem überraschend schnellen Ableben Lemmys entstand, nun doch ein Abgesang. Lemmy, wir werden dich vermissen und sind dankbar für all deine Werke und dein begeisterndes letztes Album, Anm.d.A.)
Paul Schmitz
3 Jeff Lynne’s ELO
ALONE IN THE UNIVERSE
(Columbia/Sony)
Jeff Lynne schaltet nochmal das elektrische Licht an: kurz, aber treffend. Zunächst hieß es, das Electric Light Orchestra wage ein Comeback, dann kam ALONE IN THE UNIVERSE, und man musste feststellen, dass von der einstigen Symphonic-Pop-Bigband nur noch einer übrig war: Jeff Lynne, allein im Universum. Und im Studio. Er hat die zehn Songs geschrieben, produziert und noch dazu fast alle Instrumente selbst gespielt – Tamburin und Shaker ausgenommen. Demnach: keine wilden Cello-Eskapaden wie Mitte der 70er Jahre. Aber erfreulicherweise auch keine kalkuliert wirkenden Zeitgeist-Reflexionen wie in den 80ern, als ELO auf den Disco-Zug aufsprangen. Dafür: sympathischer, netter Pop/Rock. Ein Bekannter nannte so etwas kürzlich „Altherrenmucke“, aber da muss man dann doch widersprechen. Okay, zwei-, dreimal driftet Lynne melodisch in allzu gefällige Klischees ab, doch jenseits davon gibt’s allerlei Grund zur Freude. Er kann es noch. Auch Schnulzen schreiben, die einen selbst dann berühren, wenn man eigentlich keine Schnulzen mag. Das war früher bei ›Midnight Blue‹ der Fall und trifft heute auf ›All My Life‹ zu. Einfach deshalb, weil Lynne melodisch und harmonisch noch immer derart in die Vollen geht, dass es einem ganz warm ums Herz wird. ›When I Was A Boy‹, das Titelstück und allen voran ›Ain’t It A Drag‹ – lauter schöne Lieder. Die zwar kein Meisterwerk der Sorte OUT OF THE BLUE oder A NEW WORLD RECORD ergeben, aber eben doch gute Laune verbreiten. Allerdings nur kurz, denn nach kaum mehr als einer halben Stunde herrscht leider wieder Stille im Universum.
Uwe Schleifenbaum
2 Keith Richards
CROSSEYED HEART
(EMI/Universal)
Ein neues Stones-Werk lässt weiter auf sich warten? Kein Problem – solange uns Gitarrist Keith bis dahin die Zeit versüßt. CROSSEYED HEART ist seine dritte Soloproduktion und seine erste seit 23 Jahren. Und das Beste daran: Auf sich allein gestellt, kann Richards seine musikalischen Leidenschaften ungeniert ausleben. Und das tut er. Los geht’s mit dem Titeltrack, einer akustischen Bluesminiatur, die an die Idole Muddy Waters und Robert Johnson erinnert. Seiner Liebe zum Country frönt der 72-Jährige mit dem Lead-Belly-Walzer ›Goodnight Irene‹ und der romantischen Ballade ›Robbed Blind‹ mit Steelgitarre und Piano. ›Substantial Damage‹ ist scheppernder Funk, ›Lover’s Plea‹ klassischer Soul. Dass Richards als alter Kiffer auch eine gewisse Vorliebe für Reggae hat, ist bekannt – ›Love Overdue‹, in dem er den „prisoner of loneliness“ gibt, zeugt davon. Aber natürlich fehlt auch klassischer Stones-Rock nicht, vertreten durch das rifflastige ›Heartstopper‹ und das gut gelaunte ›Trouble‹. Bei den Aufnahmen wurde Richards von alten Weggefährten wie Steve Jordan, Waddy Wachtel und Bernard Fowler unterstützt, auch Norah Jones durfte mal mitsingen. Die meisten Instrumente hat der gute Keith aber selber eingespielt. Und auch wenn er, anders als sein Kumpel Mick Jagger, nie ein großer Sänger war – wenn er sein gegerbtes, knarzendes Organ ertönen lässt, glaubt man ihm jedes Wort. Und für Zeilen wie „She’s a vegetarian/But me, I love my meat“ muss man ihn doch einfach lieben.
David Numberger
1 Iron Maiden
THE BOOK OF SOULS
(Parlaphone/Warner)
THE BOOK OF SOULS ist ein Album der Superlative: Es ist mit einer Spielzeit von 92 Minuten das umfangreichste Werk der Briten, liefert mit der Hymne ›Empire Of The Clouds‹ nicht nur eines der besten Stücke aus der Feder von Bruce Dickinson, sondern mit 18 Minuten auch den längsten Maiden-Song aller Zeiten. In 24 Ländern kletterte es auf Platz 1 der Charts, die weltweiten Reaktionen von Fans und Presse waren meist euphorisch. Was für ein Befreiungsschlag für die NWoBHM-Pioniere, schließlich prägte die Sorge um den an Krebs erkrankten Dickinson über Monate das Bandgefüge. Doch auch er ist über den Berg. Zehn Tage vor Veröffentlichung der Platte kam die frohe Botschaft über die vollständige Genesung des Sängers. Qualitativ ist es ebenfalls eines ihrer herausragendsten Werke, das man schon heute in die Reihen ihrer legendären Klassiker wie THE NUMBER OF THE BEAST, POWERSLAVE und FEAR OF THE DARK aufnehmen kann. Grund dafür sind vor allem die grandiosen Songs: Mit ›Speed Of Light‹ haben sie einen Ohrwurm der Marke ›Run To The Hills‹ geschaffen, auch ›Death Or Glory‹ ist eine nostalgische Reise in die Vergangenheit, und Stücke wie ›If Eternity Should Fail‹, ›The Red And The Black‹, der Titeltrack und natürlich ›Empire Of The Clouds‹ sind kompositorische Meisterwerke. Während der letzten Monate dachte Steve Harris oft, dass dies die letzte Platte von Iron Maiden sein könnte, das Ende der Band schien greifbar nah. Letztendlich wurde es ein spätes Meisterwerk mit Hunger auf mehr – und vollkommen zu Recht unser Album des Jahres.
Simone Bösch