Die Großwetterlage bei den britischen Prog-Darlings ANATHEMA bleibt sonnig: Nur wenige Monate nach der akustischen Aufbereitung ihrer Jugendsünden unter dem Titel FALLING DEEPER zeigen sie sich auf dem neuen Album WEATHER SYSTEMS erwachsener denn je. Was, so Gitarrist und Sänger VINCENT CAVANAGH, irgendwie unausweichlich ist…
Mit WE’RE HERE BECAUSE WE’RE HERE beendeten Anathema 2010 eine Jahre währende Periode des Schweigens – und sind seitdem wieder im kreativen Aufwind. Was, so Vincent, nicht nur der Erleichterung geschuldet ist, finanziell endlich wieder den nötigen Boden unter den Füßen zu haben. „Wir beschränkten uns auf unseren kreativen Kern“, erklärt er. „Im Studio waren meistens nur ich, mein Bruder Danny und John (Douglas, Schlagzeuger – Anm.d.A.) gemeinsam aktiv. Dadurch konnten wir sehr konzentriert arbeiten. Christer André Cederberg, unser Produzent, hat diese Chemie perfekt unterstützt, indem er den Songwriting-Prozess direkt mit den Arrangements und der letztlichen Produktion vernetzte.“
Und so geschah es, dass das, was eigentlich nur ein vorsichtiges Heranfühlen an das neue Album werden sollte, letztlich zur halben Miete wurde. „Wir hatten für die erste Session vier Songs mehr oder weniger fertig. Während der Aufnahmen improvisierten wir dann noch ›Internal Landscapes‹ zusammen – und zwar gleich am ersten Tag. Da ich mittlerweile in Paris lebe, sehen wir uns nur noch zu solchen Events, zu Aufnahmen oder auf Tour. Mir ging ein altes Riff von Danny nicht aus dem Kopf, also bat ich ihn, es zu spielen, John legte einen Beat darunter, Christer spielte Bass und ich dirigierte das Ganze – und es funktionierte so gut, dass wir den Song als Erstes aufnahmen. Der ursprüngliche Plan war, eine Standortbestimmung vorzunehmen, die paar neuen Ideen aufzunehmen und dann zu überlegen, wohin die Reise gehen soll. Aber auf einmal hatten wir fünf Songs – und das Bild dieses Albums klar vor Augen.“
Dennoch machten sie erst mal ein paar Monate Pause, flogen dann nach Oslo, um den Rest in Ruhe zu schreiben. Die eigentliche Produktion fand in der Nähe von Wrexham in Wales statt, „in einem Studio, das in einem alten Bunker eingerichtet ist: keine Fenster, zwei Meter dicke Wände – man ist völlig abgekapselt von der Außenwelt, was die Intensität der Musik nochmal verstärkt hat.“
Das Bild, das bei dieser Beschreibung entsteht, täuscht jedoch: Zwar bedienen sich Anathema bewusst inszenierter Situationen, um voll konzentriert den Feinschliff an die Idee zu bringen, letztere aber entstehen, wie Vincent betont, eigentlich immer. „Ich gehe kaum aus, habe keinen Fernseher. Ich schreibe Musik, jeden Tag. Ich wache auf und habe einen Sound im Kopf, gehe spazieren – und eine Melodie erscheint. Das Beste entsteht immer dann, wenn ich nicht denke, sondern meine Instinkte übernehmen lasse.“
Diesen „Flow“ bildet WEATHER SYSTEMS be-wusst ab, indem Songs zum einen in Teile zerlegt sind, zum anderen nahtlos ineinander übergehen. Auch insofern ist ›Internal Landscapes‹, der Songtitel, auf gewisse Art die perfekte Beschreibung für das, was Anathema tun. „Es ist ein unterbewusster Prozess“, bestätigt Vincent, „und im Kern bildet jeder Song eine authentisch erlebte, gefühlte Emotion ab.“
Das war nicht immer so. Anathema haben sich in den über 20 Jahren ihrer Existenz erst nach und nach an diese Emotionalität herangearbeitet. „Wir sind keine Magier, die nur mit dem Zauberstab wedeln müssen“, lacht Vincent. „Aber wir spüren, wenn die Magie da ist, haben es schon immer getan. ›One Last Goodbye‹ etwa, von JUDGEMENT, war so rein und ehrlich – es zerreißt mir heute noch das Herz. Und wenn man einmal so etwas erschaffen hat, gibt es keinen Weg mehr zurück. Jeder Song öffnet eine Tür in eine neue Welt.“ Das ist aber nicht zwangsläufig jeder Song, von dem Vincent glaubt, dass er das tut: „Die Regel ist eindeutig: Wenn die anderen keine emotionale Verbindung zu etwas aufbauen können, was einer von uns geschrieben hat, dann lassen wir es – dann wird daraus kein Song.“
WEATHER SYSTEMS, der Albumtitel, aber auch viele der Texte bedienen sich einer der gängisten Metaphern, die es überhaupt gibt: der des Wetters. „Es ist das Wetter über unseren inneren Landschaften. Die Emotionen, die wir verarbeiten, decken das ganze Spektrum ab, von Freude und Glück bis zu Wut und Verzweiflung.“ Dieses „Konzept“, wenn man es denn so großspurig apostrophieren möchte, stand bereits früh: „Tatsächlich waren die vier Songs, die ich anfangs erwähnte, ›The Gathering Of The Clouds‹, ›Lightning Song‹, ›Sunlight‹ und ›The Storm Before The Calm‹, also diejenigen, die das Wettermotiv schon im Titel tragen. Und damals war schon klar, dass sie den Kern des Albums bilden würden, und zwar in dieser Reihenfolge.“
Gerade weil diese Metapher so naheliegend ist, lässt sie sich, so Vincent, in jede Sprache übersetzen, „auch in deine, ganz plump gesagt. Denn ich möchte, dass jeder aus den Worten und Klängen Bezüge zu seinem eigenen Leben herstellt. Die Texte selbst sind in sehr persönlichen Erfahrungen verankert, beziehen sich oft auf eine ganz bestimmte Person – doch das ist nicht relevant für die Erfahrung als Zuhörer.“
Selbst Zuhörer war Vincent bei dem gesprochenen Intro von ›Internal Landscapes‹, einem bewegenden Einstieg in den wahrscheinlich bewegendsten Song des gesamten Albums: „Das Intro stammt aus einer Dokumentation von Kenneth Ring aus dem Jahr 1981 über Nahtod-Erfahrungen. Der Mann, der da spricht, heißt Joe Geraci. Als ich seine Aussagen zum ersten Mal hörte, blieb mir buchstäblich der Atem weg, weil er so bescheiden und direkt über eine so einmalige Erfahrung spricht – eine Erfahrung, vor der es, glaube ich, vermutlich jeden Menschen graut.“
Seine eigene Sterblichkeit beschäftige ihn an-dauernd, gesteht Vincent – und für ihn gibt es nur eine Konsequenz aus dieser Beschäftigung: „Zeige mir einen Menschen, der genau weiß, was es bedeutet zu sterben, und ich zeige dir einen Lügner.
Aber das ist gleichzeitig für mich die größte Bekräftigung des Lebens, die man sich vorstellen kann. Was auch immer jeder Einzelne über diese große Frage denkt: Es gibt einfach keine überzeugende Antwort. Darum geht es in dem Song, dem ganzen Album, in allem, was Anathema je getan haben – auch als wir noch jung und verliebt in morbide Metaphern waren: Der Gedanke an das Sterben wird uns immer begleiten, aber das einzige, was er uns zeigen kann, ist die Tatsache, wie wertvoll das Leben ist. Wir haben nur dieses eine, das ist es – wir haben eine einzige Chance, das zu tun, was uns wirklich etwas bedeutet.“