Die Soloalben des legendären Beatles sind voll von zeitlosem Pop. Auf Avant-Jazz, Vogelgesang und Urschreie sollte man allerdings ebenfalls gefasst sein.
John Lennons Solokarriere war schon vor dem Ende der Beatles in vollem Gange. Bereits im Mai 1968 arbeitete er mit seiner neuen Liebe Yoko Ono zusammen. Das größtenteils improvisierte UNFINISHED MUSIC NO. 1: TWO VIR-GINS, veröffentlicht zwei Wochen vor dem legendären „Weißen Album“, schien eine Ablehnung von allem zu sein, was die Plattenkäufer von ihm erwarteten. Dass ein absolut nichts verbergendes Nacktfoto der beiden das Cover zierte, unterstrich diese Vermutung.
Nach den Beatles erreichte seine Arbeit nie mehr diesen Grad von Avantgardismus, geriet aber kein bisschen weniger eigenwillig. JOHN LENNON/PLASTIC ONO BAND von 1970 war eine teils brutale Analyse der Kräfte, die ihn sowohl antrieben als auch quälten. IMAGINE (1971) und MIND GAMES (1973) zeigten ihn als klassischen Songwriter, der sich eine Welt ohne Krieg, Hunger, Religion und alles sonst vorstellte. Man könnte Lennon als Träumer bezeichnen, doch in seinen Texten fand sich auch viel Verbitterung.
Unmittelbar nach der Auflösung der Beatles, als er sich im verbalen Schlagabtausch mit Paul McCartney befand, war Lennons Groll in Stücken wie ›How Do You Sleep?‹ allzu offensichtlich. Dann gab es noch Lennon, den politischen Rebell, der sich mit Che-Guevara-Mütze und Sonnen-brille für eine Reihe von Dingen einsetzte – Frauenrechte, eine gerechte Justiz, den Frieden in Nordirland. Eine Haltung, die sich auf dem Protestalbum SOME TIME IN NEW YORK CITY (1972) manifestierte und ihm Ärger mit der Regierung Nixon einhandelte. Nachdem er sich Anfang der 70er in den USA niedergelassen hatte, wurde er vom FBI überwacht und mit Ausweisung bedroht. Die amerikanische Staatsbürger-schaft erhielt er erst 1976.
Da hatte er sich schon komplett vom Musikgeschäft zurückgezogen. Im Jahr zuvor hatte er sich mit ein paar alten 50s- und 60s-Stücken auf ROCK’N’ROLL verabschiedet – danach wurde er zum Hausmann und kümmerte sich um seinen neuen Sohn Sean.
Erst im Herbst 1980 kehrten er und Yoko Ono mit dem Album DOUBLE FANTASY zurück. Wenige Wochen nach dessen Erscheinen wurde er vor seinem Wohn-block in New York im Alter von nur 40 Jahren erschossen.
1987 wurde er in die Songwriters Hall Of Fame aufgenommen, sieben Jahre darauf auch in die Rock And Roll Hall Of Fame. Bis heute ist John Lennon eine der wichtigsten Figuren in der Popkultur der Nachkriegszeit.
Unverzichtbar
JOHN LENNON/PLASTIC ONO BAND
APPLE, 1970
Lennons erstes „richtiges“ Album nach den Beatles erstaunte durch Ehrlichkeit und Intensität. Urschreisitzungen beim US-Therapeuten Arthur Janov entfesselten die Geister in seinem Keller: Er befasst sich mit dem Verlust in seiner Kind-heit (›Mother‹, ›My Mummy’s Dead‹), dem Klassensystem (›Working Class Hero‹) und seiner Desillusionierung mit den Idealen der 60er (›I Found Out‹). Ringo Starr, Billy Preston und Phil Spector begleiteten, doch größtenteils ist dies komplett Lennons Werk. Die musikalischen Hintergründe sind passend sparsam, von minimalistischem Akustikklang zu aufpeitschendem Rock mit viel Echo. Es sollte das ehrlichste Album seines Lebens werden.
IMAGINE
APPLE, 1971
Viele große Namen – George Harrison, Nicky Hopkins, Jim Keltner und mehr – fanden sich für den reichhaltiger klingenden Nachfolger zu PLASTIC ONO BAND ein. IMAGINE wurde größtenteils in Lennons Heimstudio in Ascot aufgenommen und wird von seinem Titelstück dominiert, einem utopischen Traum, der zur meistverkauften Single seiner Karriere wurde. Auch zwei seiner besten Liebeslieder finden sich hier: ›Jealous Guy‹ und ›Oh My Love‹. Komplett weich geworden war er jedoch nicht: ›Gimme Some Truth‹, ein Überbleibsel aus den LET IT BE-Sessions, ist ein harscher Protestsong gegen die Politik der Nixon-Ära, während sich das vernichtende ›How Do You Sleep?‹ an seinen Ex-Kollegen Paul McCartney wandte.
Wunderbar
MIND GAMES
APPLE, 1973
Nach dem Flop von SOME TIME IN NEW YORK CITY war MIND GAMES eine Rückkehr zum weniger politischen Stil von IMAGINE. Die Aufnahmen fielen allerdings in den Zeitraum einer 18-monatigen Trennung von Yoko und dem Beginn von Lennons Beziehung mit der Assistentin des Paars, May Pang. Einige Stücke klingen wie die Arbeit eines Mannes, der von Eheproblemen abgelenkt ist, während sich andere – ›Out The Blue‹ und ›One Day (At A Time)‹ – mit dem Liebeskummer befassen. Am überzeugendsten ist er auf dem Titelstück, das auf ›Make Love Not War‹ aus der Beatles-Zeit zurückgeht.
WALLS AND BRIDGES
APPLE, 1974
„Wenn man sich WALLS AND BRIDGES anhört, hört man jemanden, der deprimiert ist“, sagte Lennon einige Jahre später. „Es ist ein Ausdruck seiner Zeit.“ In der Tat war er gerade mitten in seinem „verlorenen Wochenende“, als er mit Ringo Starr und Harry Nilsson durchsoff. Der Selbsthass auf ›Going Down On Love‹ oder die trostlose Schönheit von ›Nobody Loves You (When You’re Down And Out)‹ zeigen den Grad seiner Hoffnungslosigkeit. Doch diese Stimmung wurde kontrastiert von der US-Nr.-1 ›Whatever Gets Your Thru‘ The Night‹ und dem wunderschönen ›#9 Dream‹.
ROCK’N’ROLL
APPLE, 1975
Eine Zeile aus Chuck Berrys ›You Can’t Catch Me‹, die in ›Come Together‹ von den Beatles verwendet wurde, führte zu einer Klage vom Verleger Morris Levy. Statt vor Gericht zu ziehen, stimmte Lennon zu, drei Stücke, deren Rechte Levy besaß, aufzunehmen für ein Album mit Coverversionen. Nachdem die ersten Sessions in L.A. von Saufexzessen geprägt waren und Produzent Phil Spector mit den Master-Bändern verschwand, stellte Lennon ROCK’N’ROLL selbst fertig. Das lebhafte ›Slippin‘ And Slidin’‹ und ›Stand By Me‹ sind die Höhepunkte.
DOUBLE FANTASY
GEFFEN, 1980
Es sollte ein triumphales Comeback werden. Stattdessen wurde DOUBLE FANTASY zu einer Elegie auf Lennon, der drei Wochen nach dessen Erscheinen ermordet wurde. Sein Erfolg gründete aber nicht nur auf Sentimentalität. Das Album stellt einen musikalischen Dialog dar, dessen simple Beteuerungen in den üppigen Arrangements und Lennons souveränem Songwriting den idealen Kontrapunkt fanden. ›Woman‹ und ›(Just Like) Starting Over‹ wurden zu Nr.-1-Hits, während ›Beautiful Boy (Dar-ling Boy)‹ und ›Watching The Wheels‹ Lennons Phase als Hausmann dokumentierten.
Anhörbar
LIVE PEACE IN TORONTO 1969
APPLE, 1969
Die eilig zusammengetrommelte Plastic Ono Band gab beim Toronto Rock And Roll Revival Festival 1969 ihr Debüt. Die Lennons hatten zwei verschiedene Geschmacksrichtungen im Angebot. John und seine Band (mit Eric Clapton) stürmten durch ein Trio alter Klassiker, z.B. ›Blue Suede Shoes‹, plus ›Yer Blues‹ von den Beatles und die die Bed-In-Hymne ›Give Peace A Chance‹. Angesichts Lennons Heroin-sucht war das neue Stück ›Cold Turkey‹ am interessantesten. Yokos zwei Songs, darunter das Avantgarde-Epos ›John, John (Let’s Hope For Peace)‹, waren weniger gelungen.
SOME TIME IN NEW YORK CITY
APPLE, 1972
Zweifellos das unterschätzteste seiner Soloalben, das oft als naive Phrasendrescherei abgetan wird. Es ist durchwachsen, aber die Mixtur aus radikaler Politik und Rock’n’Roll ist stellenweise aufregend. John und Yokos Umzug nach New York führte zu ihrem sozialen Enga-gement, was sich in kontroversen Stücken niederschlug, etwa ›Woman Is The Nigger Of The World‹ (was die US-Zensoren auf den Plan rief), ›Attica Sta-te‹, ›Sunday Bloody Sunday‹ und ›John Sinclair‹. Das High-light war jedoch ›New York City‹, eine tagebuchähnliche Erzählung aus dem Leben des Paares in ihrer neuen Heimat.
MILK AND HONEY
POLYDOR, 1984
Die Session zu DOUBLE FANTASY brachten 22 Stücke hervor, doch nach dem Tod ihres Ehemanns konnte sich Yoko nicht dazu überwinden, sich mit dem unveröffentlichten Material zu befassen. Erst 1984 ließ sie den Rest in Form von MILK AND HONEY erscheinen. Beide Lennons waren zu gleichen Teilen am Songwriting beteiligt gewesen. Johns Kompositionen waren größtenteils unfertige Skizzen, die er Anfang ’81 ausarbeiten wollte. Yoko entschied klugerweise, sie in ihrer unvollendeten Form zu belassen. Das verleiht Songs wie ›I’m Stepping Out‹ und ›Nobody Told Me‹ eine Direktheit, die Yokos aufwendigeren Stücken fehlte.
Sonderbar
UNFINISHED MUSIC NO. 2: LIFE WITH THE LIONS
ZAPPLE, 1969
Wenn es darum geht, einen großen Bogen um etwas zu machen, nehmen sich die drei Experimental-Alben, die John und Yoko in den letzten Jahren der Beatles aufnahmen, nicht viel. Auf UNFINISHED MUSIC NO. 1: TWO VIRGINS fanden sich Gesangsimprovisationen, Vogelgesang und Scherzmusik. Der Nachfolger ist noch schwerer verdaulich: ein Avant-Jazz-Kreischfest, aufgenommen an der Uni von Cambridge, sowie ein zwölfminütiges Stück, auf dem Yoko das Radio an- und ausstellt. Doch im Vergleich zum WEDDING ALBUM von 1969 klingt es fast poppig.