Bands kamen und gingen, Trends kamen und gingen, Motörhead kamen… und blieben. Seit 38 Jahren zieht die räudige Rockmaschine nun schon unbeirrt ihre Bahnen und steht dabei wie ein unverrückbarer Fels in der harschen Brandung musikalischer Entwicklungen und Styles. Mit ihrem 21. Album AFTERSHOCK stellen Lemmy Kilmister, Phil Campbell und Mikkey Dee nun einmal mehr klar: Motörhead sind Motörhead sind Motörhead. Mehr klassisch und mehr Rock geht kaum.
Text: Ben Foitzik
Viel wurde in den vergangenen Monaten im Internet über den maroden Gesundheitszustand von Motörhead-Fronter Lemmy Kilmister gegossipt: Defibrillator-OP, anschließender Schwächeanfall, einige hatten den laut (im Angesicht der Ernsthaftigkeit plötzlich ziemlich albern wirkender) Fan-Legende unkaputtbaren Rocker gar schon unter die Erde geschrieben. Interessiert uns alles nicht. Natürlich hat der heute 67-Jährige im vergangenen halben Jahrhundert wie kaum ein Zweiter den Rock’n Roll zelebriert, Jacky Coke wie andere Wasser gesoffen und tonnenweise Amphetamine eingeworfen. Und natürlich kann so ein Lebensstil an keinem menschlichen Körper spurlos vorübergehen. Aber es wäre doch irgendwie respektlos, die lebende Ikone Lemmy nun mit Fragen über (die Angst vor dem) Tod, seinen „Zustand“ oder die potenzielle Inschrift auf seinem Grabstein zu nerven. Das wirklich Wichtige ist schließlich: Lemmy ist gut drauf und schaut gut aus an diesem unerträglich heißen Sommertag, an dem wir das Rock-Unikat in Berlin treffen, um mit ihm über das neue Motörhead-Album AFTERSHOCK zu sprechen.
DJ Lemmy
Bevor gesprochen wird, ist zunächst einmal Lauschen angesagt: Der Maestro persönlich spielt bei der Hotelzimmer-Privataudienz auf einem iPad den Rohmix des neuen Werks vor, das satte 13 Tracks enthält und allein deswegen schon besser als der lediglich zehn Songs starke Vorgänger THE WÖRLD IS YOURS sein müsse, wie Lemmy später vorrechnet. Ein mathematischer Ansatz, dessen Logik man schlichtweg nicht widerlegen kann.
Eigentlich könnte sich der zunächst etwas ausgemergelt wirkende Rock-Gott mit dem ikonischen „Chief“-Stanton auf der Birne die Zeit ja sparen, indem er dem Journo ein Motörheadphöne aufsetzt, auf „Play“ drückt und irgendwo die Füße hochlegt, doch er besteht darauf, AFTERSHOCK – das mittlerweile 21. Motörhead-Studioalbum – höchstselbst als DJ zu präsentieren. Umso besser: Allein diesen kauzigen Typen dabei zu beobachten, wie er am Hotelschreibtisch sitzt, von der ersten Sekunde an nonstop mit den in schwarze Jogger eingepackten Beinen mitwippt, dabei permanent mit seinen Fingern den Luftbass zupft und bei jedem Song still die Lippen bewegt, ist ein Anblick für die Rock’n’Roll-Ewigkeit. Neben ihm steht ein Glas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit und Eiswürfeln, von hinten bläst ihm ein Standventilator volle Möhre eiskalte Luft ins Kreuz.
Die ersten beiden Albumtracks erweisen sich als furiose Motörhead-Rocker, bei denen man sich schon inbrünstig mitgrölend im Moshpit toben sieht. „Der hier heißt ›Heartbreaker‹“, brüllt Lemmy plötzlich aus voller Teerlunge durch die Wall-of-Sound. „Der davor war ›Death Machine‹!“ Bis dahin war ihm bis auf ein kurzes „Hallo, wie geht’s?“ eigentlich kein Wort über die Lippen gekommen. Doch je länger das Album spielt, desto mehr blüht der legendäre Rock-Kauz auf: Es ist nicht zu übersehen, dass ihn das, was er hört, glücklich macht. Heilung durch Eigenmusik quasi. Phil Campbells tonnenschwere Riffs sirren durch den Raum, Mikkey Dee trommelt sich den schwedischen Teufel aus dem Leib, Lemmy lässt seine finsteren Bass-Grooves wummern und schmettert mit bewährter whiskeygestählter Stimme etwas von „rock’n’roll is coming back to you“, „Lucifer right on your heels“ und „do what your soul demands“. Beim sechsten Song dreht er den Volume-Regler plötzlich auf Maximum und muss den Titel folglich noch lauter schreien: „Queen of the Damned!“ „What?!?“ „QUEEN OF THE DAMNED!!!“ „Ah, okay.“ Ein hypnotisierendes Riff windet sich in den Gehörgang, kurzer Break, fulminantes Solo – ein waschechter Motörhead-Kracher. Gerade als man denkt, eine Verschnaufpause gut vertragen zu können, kommt mit ›Lost Woman Blues‹ die erste Midtempo-Nummer des Albums, deren elektrisierende Bass- und Gitarrenläufe einen bewussten Kontrast zum Vollgas-Modus der ersten Hälfte darstellen. Fast schon romantisch, das Ding – und damit nicht ganz allein auf der Platte: Auch das superbe ›Dust And Glass‹ ist eine astreine Blues-Ballade, die fast schon Tito & Tarantula-Flair verströmt. Doch keine Sorge, Motörhead werfen im 38. Jahr ihres Bestehens nicht etwa den Weichspülmodus ein: Schon bei ›Paralyzed‹, bei dem sich die Monsterriffs die Klinke in die Hand geben, wird man wieder gnadenlos von einer Rock-Dampfwalze überrollt. Der Mann unter dem Hut ist inzwischen warmgelaufen und bietet eine Kippe an. Ist es uncool abzulehnen? Egal, muss er mit klarkommen. Viel interessanter ist ohnehin, dass direkt neben dem iPad ein Hinweis-Schild des Hotels aufgestellt ist: Rauchen verboten. Wer es doch tut, muss eine „Cleaning Fee“ in Höhe von 150 Euro berappen. Als wenn Lemmy das kümmerte! Letzte Relikte intensiv gelebter Rock’n’Roll-Anarchie. Und schon beim nächsten gnadenlos nach vorne hämmernden Song, dessen Name auch nach fünfmaligem Nachfragen nicht verständlicher wird (später als ›Coup De Grace‹ identifiziert), möchte man selbst zum Hotelzimmerberserker mutieren und den Flatscreen aus dem Fenster schmeißen. Auf Lemmys Rechnung, versteht sich.
Beim anschließenden ›Silence When You Speak To Me‹ zückt die lebende Legende dann ein in ein Motörhead-Case gehülltes (weißes!) iPhone und präsentiert das Cover von AFTERSHOCK: Der klassische, dezent zerschmelzende Motörhead auf apokalyptischer Wüstenlandschaft. Plötzlich fährt Lemmy mit einer pfeilschnellen Bewegung die Rechte aus, so dass man instinktiv Deckung sucht. Doch statt einen unwürdigen Journalisten zu verdreschen, trommelt er nur den Schlagzeugpart mit – Glück gehabt. Nach einem kurzen Ausflug ins Badezimmer während der potenziellen neuen Hymne ›Knife‹ steckt sich der Meister beim finalen ›At The End Of Time‹ (der es letztendlich wohl doch nicht aufs Album geschafft hat) die nächste Fluppe an und singt ein letztes Mal mit: „Dancing with the devil at the end of time“. Lass dir mit diesem Date gerne noch sehr viel Zeit, Lemmy!
Lemmy & L.A. = in Love!
Ein Interview mit Lemmy Kilmister ist eigentlich kein wirkliches Interview. Es ist eher wie eine Gesprächs-Odyssee, durch die man sich einfach willenlos treiben lässt. Man kann zwar versuchen gegenzusteuern, indem man dann und wann eine der gut 50 Fragen stellt, die auf dem Zettel stehen, doch wirkliche Kontrolle hat man über dieses Gespräch selten. Lemmy gibt den Takt vor und redet letzten Endes über alles, was ihm spontan in den Kopf kommt. „Stell mal den Ventilator runter“, fordert er, nachdem die letzten Klänge von AFTERSHOCK verklungen sind. Ob in seiner vollgeramschten 2-Zimmer-Bude in L.A. (siehe die großartige Doku „Lemmy“ von 2010) denn auch ständig der Ventilator brummen würde, so die beiläufige Eisbrecher-Small-Talk-Frage. „Ich hab‘ noch nicht mal einen“, brummt er zunächst, kommt dann aber plötzlich munter ins Schwärmen über seine kalifornische Wahlheimat. „Dort ist einfach das Business zu Hause – wir hätten nicht die Hälfte unserer Musik-Awards bekommen, wenn wir in England geblieben wären. Ach, die Band wäre heute tot, wäre ich nicht vor 21 Jahren nach L.A. gegangen! Und es hat mir dort ja auch immer gut gefallen: Viele leicht bekleidete Mädchen, alles kostet nur halb so viel – noch Fragen?“ Natürlich nicht, leuchtet absolut ein! An seinem Heimatland scheint Lemmy ohnehin nicht sonderlich zu hängen – seine Geburt war schließlich eh nur ein „beschissener geographischer Zufall“: „Ich bin wie ein Straßenköter, der nirgendwo hingehört. Das einzig Wichtige ist, dass du mit dir selbst im Reinen bist. Wenn das nicht der Fall ist, wirst du dich nirgends zu Hause fühlen. Ich habe nicht darum geben, in England geboren zu werden, ich habe nicht darum gebeten, in England zu bleiben – warum sollte ich auch? Das Scheißland ist den Bach runtergegangen, wen interessiert’s?!“ Aber Lemmy, was soll denn der frisch gepresste George Alexander Louis, Königliche Hoheit Prinz von Cambridge dazu sagen? Doch Lemmy ist schon längst wieder back in the USA und erzählt davon, wie er gleich am Anfang seiner L.A.-Zeit ins 1992er Erdbeben geriet und auf der Suche nach einer Unterhose durch seine dunkle Wohnung stolperte. „Dass ich meinen Nachbarn nicht meinen Schwanz zeigen wollte, hat mir damals vermutlich das Leben gerettet. Draußen wäre ich bestimmt von irgendeinem einstürzenden Gebäude erschlagen worden.“ Da hat es das Schicksal wohl gut mit ihm gemeint – und natürlich irgendwie auch mit uns. Was war eigentlich noch mal die Frage gewesen? Ach, richtig: Es gab noch gar keine. Wenn Lemmy redet, dann hält man gefälligst die Fresse und lauscht andächtig. Ganz nach dem eben gehörten neuen Song: „Silence when you speak to me“. Eine Frage jedoch will gestellt werden: Wie funktioniert eine Band, deren drei Mitglieder an der US-Westküste, in Wales und in Schweden leben? „Wo die anderen leben, ist ja ihre Entscheidung“, findet Lemmy. „Phil liebt Wales und ist sehr walisisch. Dabei spricht er noch nicht mal die Sprache – zum Totlachen eigentlich. Und Mikkey ist professionell schwedisch. Der kommt nicht aus Schweden raus.“ Cut. Behauptungen, die verifiziert werden wollen. Fast Forward.
Alter Schwede!
Ein paar Tage später steht ein Telefoninterview mit Motörhead-Drummer Mikkey Dee auf dem Prögramm, der sich im schwedischen Göteborg herumtreibt – im wahrsten Sinne des Wortes: Der erste Gesprächs-Versuch wird verschoben, weil Mikkey spontan seinen Sohn irgendwo hinfahren muss. Beim zweiten Anruf eine Stunde später düst er dann gerade durch die Stadt, um ein paar Kartons Motörheadphönes abzuholen und woanders hinzufahren. Nach einer weiteren Verschiebung sitzt er dann zwar immer noch am Steuer, hat aber immerhin Muße für ein kurzes Gespräch. Na dann fahren wir doch mal ein bisschen mit ihm durchs wunderschöne Schweden.
Was hat Lemmy eigentlich damit gemeint, dass sein Drummer „professionell schwedisch“ sei und nicht außerhalb Schwedens leben wolle? „Das kann ich dir auch nicht sagen: Ich habe selbst elf Jahre in L.A. gelebt, und zwar schon vor Lemmy, weil ich 1987 mit King Diamond dorthin gezogen bin. Aber irgendwann bin ich es dann leid gewesen und zurück nach Europa gegangen, wo ich noch mal drei Jahre in Kopenhagen gelebt habe und schließlich wieder nach Schweden gezogen bin. Womit er Recht hat, ist, dass ich Schweden heute liebe. En Big Mac och en stor vatten, tack.“ Äh… wie meinen? Kurios: Der Mann fährt tatsächlich gerade durch den Drive-in einer internationalen Fastfoodkette. Aber hat ja auch mal was – wann fährt man schon mal mit einem Rockstar an der Strippe durch eine schwedische Burger-Bude? Dass das irgendwie sonderbar ist, erkennt auch Mikkey und erklärt: „Sorry, ich muss leider nebenbei Mittag essen. Ich fahre hier echt den ganzen Tag wie ein verdammter Idiot durch die Gegend!“ Gut, verdrängen wir die Mampfgeräusche und konzentrieren uns auf AFTERSHOCK, über dessen Qualität Mikkey nach eigenen Aussagen noch nicht so viel sagen kann, da es noch ein wenig reifen müsse. Dass man freilich eine „sehr, sehr gute“ Platte aufgenommen habe, ist natürlich klar. „Ich weiß, dass es gut ist, ich weiß nur nicht, wie gut es ist. Ich sage nie über ein neues Album, dass es unser bestes ist, denn was soll ein bestes Album sein? Was für mich das beste ist, könnte für dich das schlechteste Album sein. Wenn du einen Motörhead-Fan fragst, was sein Lieblingsalbum ist, wird er vermutlich sagen ’nacheinander ACE OF SPADES und OVERKILL auf jedem Song‘. Und der nächste sagt dann vielleicht, ‚das alte Zeug ist gut, aber mir gefällt das neue trotzdem viel besser‘. Was soll also das beste sein? Ich habe keine Ahnung.“
Alles ist subjektiv, klar, aber Motörhead haben immerhin einen entscheidenden Vorteil: Dadurch, dass sie ihren markigen Sound nie großartig verändert haben, sind sie eine sichere Bank für ihre Fans. Andersrum gesehen, bleiben sie für jene, die sie aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nicht mögen, auch stets ein rotes Tuch. Beide Lager können wohl gut damit leben. „Wir machen immer nur kleine Schritte nach vorne“, bestätigt Mikkey. „Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir die Musik vor allem anderen für uns selbst schreiben. Wenn es den Leuten gefällt, ist das ein willkommener Bonus. Aber wenn du mir jetzt sagen würdest, dass das neue Album totale Scheiße ist, dann müsste ich auch damit leben. Wenn wir uns an den Tisch setzen und überlegen würden, welche Art von Musik die Leute wohl gerne von uns hören wollen, dann wäre es mit dieser Band schon vor langer Zeit zu Ende gewesen. Man muss da einfach hart bleiben: Wir schreiben diese Musik, das ist der Motörhead-Sound. Friss oder stirb!“ Wir fressen natürlich – aber natürlich kein Fastfood, denn dann sterben wir ja schneller. Doch gesunde Ernährung war ohnehin noch nie Motörheads Sache. Wenn die Jungs aber, wie Mikkey und vermutlich jeder Motörhead-Fan dieser Welt hofft, noch ein paar weitere Jahre lang „coolen Stuff“ raushauen wollen, müssen sie auf ihre späten Jahre tatsächlich noch einmal ihre Gewohnheiten ändern. Allen voran natürlich der große Kilmister höchstselbst, der locker Mikkeys und theoretisch sogar Phils Vater sein könnte. Mikkey über Lemmys Lebenswandel: „Ich hoffe, dass er gesund bleiben kann, das alles ernst nimmt und erkennt, dass er keine 28 mehr ist.“ Gut, wer ist das schon? Aber fragen wir doch einfach mal nach, was Gitarrist Phil Campbell von der Gesundheitsdebatte hält, der in seiner Karriere ja auch nicht gerade als Kostverächter in Erscheinung getreten ist.
PHIL UND DIE SCHAFE
Phil Campbell hockt gerade irgendwo in einem seiner diversen Anwesen in Wales und legt im Gegensatz zu Mikkey ein wenig die Beine hoch. Auf die Frage, was er gerade so treibe, antwortet er: „Ich habe angefangen, Stepptanzstunden zu nehmen. Ist doch mal was anderes! Ich bin aber nicht wirklich gut und brauche noch viel Übung.“ Vor dem geistigen Auge zieht ein Bild auf, wie Phil Campbell auf der Bühne während eines Motörhead-Gigs statt in die Saiten zu hauen eine Stepptanzeinlage abliefert. Hinfort, grausige Vorstellung! „Abgesehen davon gehe ich hier jeden Tag mit meinen Hunden raus, spiele ein bisschen in meinem Studio, sitze auf dem Klo und lese.“ Es scheint, als wollten die grausigen Vorstellungen nicht abreißen. Thema-Wechsel: Was hat Lemmy gemeint, als er sagte „Phil ist sehr walisisch“? „Keine Ahnung – wahrscheinlich, dass ich es mit Schafen treibe?“ Okay, Kapitulation. Phil: 1 – Contenance: 0. Immerhin scheint der Gitarrero gut drauf zu sein, und das soll ja nicht unbedingt immer der Fall sein, wie er selbst bestätigt: „Manchmal bin ich nett, manchmal bin ich ein Arschloch – du musst schon Glück haben, um mich in einer guten Stimmung zu treffen.“ Anscheinend ist heute so ein glücklicher Tag, denn nach dem anfänglichen Trash-Talk gibt Phil dann doch noch ein paar interessante Einblicke in den Motör der Band, der nicht nur beim 67-jährigen Sänger, sondern auch beim 15 Jahre jüngeren Gitarristen mittlerweile ein wenig ins Stottern geraten ist. „Der Doc hat mir gesagt, ich soll mit dem Rauchen und Trinken aufhören“, verrät er. „Wir werden alle nicht jünger – ich muss mich ein bisschen um meine Leber kümmern und gesünder leben. Ich sag dir, das ist gar nicht so einfach, zur Abwechslung auch mal an die eigene Gesundheit zu denken.“ Da sind sie dann ja immerhin schon zu zweit in der Band. „Auch Lem musste sich ein bisschen erholen. Es war natürlich schade, dass wir einige Festivals canceln mussten, aber Gesundheit geht doch vor, oder? Wir müssen einfach ein bisschen vom Gaspedal gehen und statt 150 Shows pro Jahr vielleicht nur halb so viele spielen. Dann können wir eventuell noch drei, vier, fünf Jahre so weitermachen. Und selbst wenn wir nur zehn Shows pro Jahr spielten, könnten sich die Leute nicht beschweren, denn wir haben in den letzten eine Million Jahren eine Million Shows jährlich gemacht. Wir haben natürlich immer noch Spaß daran und wollen das so lange wie möglich weitermachen, aber in unserem Alter muss man auch mal kürzer treten anstatt in einer Tour zu keulen.“
Anders als Trommler Mikkey, ist Phil auch ohne Karenzzeit schon jetzt ziemlich zufrieden mit AFTERSHOCK. Auf die beiden Blues-Balladen angesprochen, entpuppen sich diese auch als seine Album-Favoriten – und waren natürlich auch seine Idee. „Mir gefällt das sehr gut“, sagt er über die Tempovariation auf der neuen Platte. „Ich mag es nicht, wenn du zwölf Songs hast, die die ganze Zeit bangbangbang gehen. Es ist doch angenehm, wenn man auch mal ein bisschen Entspannung und Raum beim Hören bekommt.“ Wo er Recht hat, hat er nicht Unrecht! Doch langsam wird der gute Mann ungeduldig. „Nach meiner Rechnung hast du schon 17 Minuten – die gute Laune ist also vorbei. Siehst du, da ist das Arschloch!“, lacht er.
DAS. IST. LEMMY!!!
Zurück nach Berlin, wo Lemmy weiter munter auf Zeitreise ist: Von den 92er Unruhen in L.A., die ausbrachen, als die Polizisten freigesprochen wurden, die Rodney King mit Brecheisen verdroschen hatten („Es gab ein Video davon – wie kann man da ’nicht schuldig‘ sein?!“), geht’s in die Hochzeit des Rock’n’Rolls in den 60ern bis zum Status quo der „schwarzen Musik“ („Das musikalische Erbe von Musikern wie Little Richard, Fats Domino oder Chuck Berry soll Hip-Hop sein?! Wohl kaum.“). Überhaupt, Little Richard: Von kaum einem anderen Rock-Musiker scheint Lemmy so angetan wie ihm: „Er ist der König des Rock’n’Rolls. Oder die Königin – wie man es nimmt. Schwarz und schwul im Macon der 50er Jahre, das war bestimmt kein Zuckerschlecken! Er hat Kleider angezogen, sich einen Schnurrbart aufgepinselt und oft ein hautenges rotes Kostüm getragen – es ist ein Wunder, dass er nicht von diesen Ku-Klux-Idioten gelyncht wurde. Kennst du ›Tutti Frutti‹? Little Richard hatte den Song eigentlich über Schwule geschrieben: ‚Tutti Frutti, good booty… you can grease it, make it easy.‘ Das war verdammt eklig. Doch dann kam Dorothy LaBostrie und hat den Text umgeschrieben.”
Und weil’s so amüsant ist, hier noch ein weiteres Beispiel dafür, wie kurios die Synapsen von Lemmy Kilmister arbeiten: Auf die Frage, wofür er sich entscheiden würde, wenn er zwischen Rock’n’Roll, Frauen und Alkohol wählen müsste, sagt er: „Muss ich ja glücklicherweise nicht, denn das eine führt dich automatisch immer auch zum anderen. Frauen sind für einen Kerl natürlich immer ein großer Teil seines Lebens, und so sollte es ja auch sein: So wahren wir das Recht, die Bevölkerung am Leben zu erhalten – obwohl das inzwischen ein wenig außer Kontrolle geraten ist. Aber es gibt in Amerika und auch England noch so viel freies Land, das von der Army benutzt wird. Oder diese ganzen Golfplätze, denk doch nur mal, was du mit dem ganzen Land machen könntest: Wohnungen darauf bauen oder einen Park errichten! Stattdessen schlagen da ein paar Bastarde in komischen Kleidern Bälle hin und her. Was für ein Scheißsport! Du schlägst einen Ball mit einem Stock und gehst ihm dann hinterher (lacht). Steck‘ ihn einfach in die Tasche und geh‘ stattdessen einen trinken – dann hast du ein verdammt gutes Handicap.“ Von einer Ode an die Frau zu einer Tirade über Golfer in weniger als einer Minute – das ist Lemmy. In der bereits angesprochen „Lemmy“-Dokumentation, die kein Motörhead-Fan nicht kennen sollte, sagt Metallica-Drummer Lars Ulrich über die einzigartigen (Rock-)Kulturikone: „Lemmy sollte ein Verb sein.“ Eine hervorragende Idee, nur was genau würde „to lemmy“ bedeuten? Lemmy lacht: „Keine Ahnung, wie Lars darauf gekommen ist. Ich hätte ja gedacht, dass ich eher ein Adjektiv bin. Oder vielleicht jemanden entlemmyen? Ich fürchte, wir müssen uns mit dem Substantiv zufrieden geben.“ Obwohl „to unlemmy someone“ gar nicht so verkehrt klingt. Für: „Jemandem den Stock aus dem Arsch ziehen.“
NACHBEBEN
Warum das Album AFTERSHOCK heißt, weiß Lemmy eigentlich auch nicht so genau. „Das war Mikkeys Idee“, sagt er. „Wenn die Leute den Titel nicht mögen, trägt er die Verantwortung.“ Nachfrage am schwedischen Fastfood-Drive-in: Wieso AFTERSHOCK? „Lemmy wollte irgendetwas wie ‚After the War‘ oder so, aber ich persönlich wollte das Wort ‚War‘ einfach nicht auf unserem Albumcover haben, das ist doch viel zu deprimierend – ich hab‘ so die Schnauze voll von ‚Krieg hier und Krieg dort‘. Ich denke, ‚Aftershock‘ ist einfach ein viel besseres Wort.“ Soviel zum Mythos, dass bei Motörhead allein Lemmy Kilmister das Sagen hat und sonst niemand. Auch wenn Lemmy die Band im fernen 1975 gegründet hat und seine jetzigen Mitstreiter erst sehr viel später dazustießen (Phil 1983, Mikkey 1992), lässt er nicht den Diktator raushängen, sondern setzt auf das Prinzip Gleichberechtigung. „Letzten Endes haben wir vermutlich alle gleich viel für das neue Album geschrieben“, bestätigt Mikkey. „Phil und ich schreiben viele Riffs und setzen sie dann mit Lemmy in L.A. zusammen, wo wir auch noch mal viel gemeinsam schreiben. Deswegen klingt das Album ja auch so, wie Motörhead heute klingen sollten.“ Wie das ist? Motörhead klingen nun mal wie Motörhead – und das ist auch gut so. „Wenn Lemmy anfängt zu singen, glaubst du ja nicht, dass das Jon Bon Jovi ist, oder?“, heißt es dazu aus Wales, und auch Lemmy ist sich des klanglichen Motörhead-Trademarks bewusst: „Du erkennst die Beatles und du erkennst die Stones, weil sie einen markanten Sound haben. Bei uns ist es auch so, nur sind wir in-die-Fresse-markant. Das ist einfach unser Sound, und deswegen werden auch all unsere Alben immer ähnlich klingen, weil es nun mal die gleiche Scheiß-Band ist, oder? Wenn die Leute sagen, dass wir immer wieder den gleichen Song spielen, dann ist das völliger Schwachsinn und zeigt einfach nur, dass sie nicht hinhören.“ Stichwort ›Ace of Spades‹? „Du würdest dich wundern, wie viele es von denen gibt: ‚Yo, dude, Ace of Spades, dude!‘ Ja, genau, an den kann ich mich erinnern. Du nicht, du bist fünf Jahre alt.“
Wie schon bei den vorangegangenen vier Motörhead-Studioalben saß auch diesmal wieder Cameron Webb im Produzentenstuhl und verschaffte AFTERSHOCK den gewohnt räudigen Sound. Man kennt sich, man schätzt sich, und man geigt sich auch schon mal gegenseitig die Meinung, wie Phil verrät. Doch während andere (jüngere) Rockbands regelmäßig ihren Produzenten wechseln, um nicht in der vielbeschworenen, beinahe mythischen „Komfortzone“ zu landen, setzen Lemmy und Co. auch in diesem Punkt auf Kontinuität. „Es ist gut, jemanden zu haben, der intelligent und kompetent ist und auf deine Musik steht. Viele andere machen es doch nur fürs Geld – das Produzentengewerbe ist derzeit in einem ziemlich kläglichen Zustand. Es gibt diese Star-Produzenten wie Rick Rubin… ich bin mir sicher, dass der Mann gut ist, aber er macht keine Motörhead- oder Kiss-Alben, sondern er macht Rick-Rubin-Alben. Warum auch nicht? Er hat sein ganzes Leben darum gekämpft, diesen Status zu erlangen. Aber wir könnten kein Album mit ihm machen, denn dann würden wir klingen, als kämen wir gerade von der Metallica-Session. Ein guter Produzent sollte interpretieren, was du zu machen versuchst.“ Mit anderen Worten: Wenn der Produzent zum Rockstar wird, läuft irgendetwas falsch.
DER ZUSTAND
Ganz umhin kommt man um „den ganzen Bull-shit und die Gerüchte da draußen“ (Mikkey) bezüglich Lemmys Gesundheit nach alledem dann irgendwie doch nicht. Und am Ende des Gesprächs entscheidet der Meister aus freien Stücken, noch ein paar Einblicke in sein Seelenleben zu geben: „Es geht mir jetzt schon wieder viel besser, das war einfach nur ein schlechter Start. Nach dem ersten Schritt auf der Leiter wird jeder weitere immer leichter.“ Ein Grund dafür, warum die Internet-Gerüchteküche so wild brodelte, war sicherlich, weil Lemmy selbst einmal gesagt hat, dass Motörhead einen Auftritt nur dann canceln würden, wenn einer von ihnen ernsthaft krank sei. Lemmy kann einfach den Gedanken nicht ertragen, die Leute zu enttäuschen. Doch wer im Krankenhaus liegt, kann keine Rockshow spielen – und kein einziger Motörhead-Fan auf dieser Welt hätte wohl einen Gig sehen wollen, bei dem Lemmy auf der Bühne kollabiert.
Wie sehr sich seine Fans auf der ganzen Welt um ihn gesorgt haben, ist dem nur scheinbar unterkühlten Rocker dabei sehr zu Herzen gegangen. „Ich war wirklich beeindruckt, wie viele Menschen mir Genesungswünsche und nette Worte geschickt haben“, sagt er und beugt sich plötzlich ganz dicht über das Aufnahmegerät: „Hallo ihr alle – vielen, vielen Dank! Das hat mir sehr geholfen. Mein Herz ist bei euch.“ „My heart goes out to you“ – angesichts seiner jüngsten Herzprobleme nicht einfach bloß eine Redewendung, sondern auch eine wunderschöne Metapher mit unterschiedlichen Deutungsansätzen. „Die Leute scheinen mich wirklich zu lieben“, hat Lemmy in seinen schweren Stunden erkannt, „und das ist ein wunderbares Gefühl. Ist mir jetzt aber fast schon wieder ein bisschen peinlich.“ Und dann lacht er dieses herrlich kernige Lemmy-Lachen.
DIE ZUKUNFT
Und nun? „Wir werden wieder durchstarten. Und es allen beweisen.“ Entschuldigung, aber du bist Lemmy, ihr seid Motörhead – was solltet ihr wem denn bitte noch beweisen müssen?! „Na dass man seines Status würdig ist! Wenn du eine scheiß Ikone sein willst, solltest du dich dessen doch besser als würdig erweisen, oder nicht? Du bist immer nur so gut wie deine letzte Show. Und selbst wenn ich nie wieder ein Konzert spielen könnte, würde ich für immer Alben machen. Sogar im verdammten Ganzkörpergipskorsett könnte ich noch neue Alben aufnehmen! Na gut, wenn es soweit kommen sollte, höre ich vielleicht auf.“ Aber auch nur vielleicht.
Was am Ende dieses Gesprächs bleibt, ist das besondere Gefühl, einen wahnsinnig interessanten, sympathischen und freundlichen Menschen getroffen zu haben – einen der letzten natürlich coolen Typen dieses Planeten. To lemmy or not to lemmy? Das ist doch die eigentliche Frage hier.