Nach 30 Jahren im Geschäft veröffentlicht Jon Oliva sein erstes Soloalbum. Statt Savatage-Bombast und Trans-Siberian Orchestra-Fabeln gibt es auf RAISE THE CURTAIN melodischen Rock mit Prog-Schlagseite und die letzte unveröffentlichte Musik von Jons 1993 verstorbenem Bruder Criss.
Es ist ein Album für die Toten. Ein Geisteralbum. Geschrieben für einen Verstorbenen mit unveröffentlichter Musik aus der Feder eines Verstorbenen. Von morbider Todeskunst kann dennoch keine Rede sein: Was Jon Oliva auf seinem ersten Soloalbum RAISE THE CURTAIN vom Stapel lässt, ist klassischer, melodischer Rock zwischen Siebziger-Magie, Prog-Kunst und metallischem Schneid. Bei der Ensttehungsge- schichte mutet das durchaus als kleines Wunder an: Nach dem Tod seines bei Jon Oliva‘s Pain tätigen Bandkollegen Matt Laporte fiel Jon Oliva 2011 in eine tiefe Depression. Albträume, Schlaflosigkeit, Trauer. Wie so oft, war es letztlich die Musik, die ihm wieder auf die Beine half: Mit dem gemeinsamen Freund Dan Fasciano sprach er über ihren Verlust, schnell wurde daraus ein gemeinsames Musizieren, ein tägliches Ritual, bei dem letztlich 60 neue Songs entstanden: Eine musikalische Therapie allererster Güte. „Ich fuhr jeden Morgen zu Dan, um mit ihm Songs zu schreiben. Wir kochten Kaffee, sprachen miteinander und schrieben neue Stücke. Es half uns beiden, aus diesem tiefen Loch herauszukommen, in das wir 2011 gefallen waren“, erinnert sich Jon an die dunkle Zeit. Dass sein erster Soloausflug RAISE THE CURTAIN einzig Matts Vermächtnis ist, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. „Dieses Album enthält die letzte unveröffentlichte Musik meines Bruders Criss“, verkündet er die Sensation. „Und darunter die ersten Songs, die wir als Teenager geschrieben haben. Ich wollte zeigen, wo wir her- kommen, und das mit dem Hier und Jetzt verbinden.“ Der Kreis schließt sich: Criss Olivas letzter Vorhang auf einem Album, das durchaus als Neuanfang für Jon bezeichnet werden darf als „Jung- brunnen“, wie er schmunzelnd anfügt.
Die Hintergrundgeschichte des unveröffentlichten Materials mutet dabei ein wenig wie eine der märchenhaften Legenden an, mit denen das Trans-Siberian Orchestra in Erscheinung tritt: 2002 fand Jons Frau beim Umzug in einer Kiste mit alten Bühnenklamotten zufällig einen zugeklebten Schuhkarton, in dem sich haufenweise alte Tapes befanden. Jon muss es vorgekommen sein wie eine Stimme aus der Geisterwelt, als er lang verschollene und vergessene Aufnahmen seines rund zehn Jahre zuvor verstorbenen Bruders wieder hörte. „Es war ein ungemein emotionaler Moment, als ich diesen alten Tapes lauschte“, blickt er zurück. „Das Anfangsriff von ›Father Time‹ auf meinem neuen Album war beispielsweise das zweite Riff, das er jemals geschrieben hat. Er war damals erst 16!“ Nostalgie und Wehmut sind Jon bei diesen Erinnerungen deutlich anzuhören. Bevor er sich dazu entschloss, sein Soloalbum mit diesen letzten unveröffentlichten Aufnahmen seines Bruders zu krönen, musste er tonnenweise Zweifel aus der Welt räumen und manch durchwachte Nacht durchstehen. „Tief in mir wusste ich aber, dass ich es tun musste. Für Criss und für mich. Unsere Fans werden das zu schätzen wissen niemand sonst war bisher im Besitz dieser Aufnahmen.“ Was Jon beim Hören neben der Flut an Erinnerungen durch den Kopf schoss, war vor allem eines: „Dass ich viel besser geworden bin. Ich war damals sehr langsam und bluesig unterwegs, Chris war immer deutlich schneller.“
Typisch für ein Soloalbum ist an RAISE THE CURTAIN die Frische und Freiheit, mit der der 52-Jährige zu Werk geht. Die musikalische Hinwendung zu proggigem Rock, der Einsatz von Bläsern und die stimmungsvollen Metal-Zitate zeigen ein neues Gesicht des Savatage-Gründers. „Nach so vielen Metal-Alben war es höchste Zeit für etwas anderes“, bekennt er. „Klar gibt es einige Metal-Songs auf der Platte, vor allem aber ist es ein ehrliches Rockalbum, auf dem ich endlich mal als Lead- Gitarrist in Erscheinung trete. Und das wollte ich immer schon mal“, lacht er. Ein erfüllter Traum ist sein Solodebüt also gleich in mehrerlei Hinsicht und ein nostalgischer Spaziergang durch seine gesamte Karriere. „›Can‘t Get Away‹ ist der erste Song, den Criss und ich je zusammen geschrieben haben 1979, im Keller unserer Großmutter.“ Andere Fragmente des Albums entstanden, als die beiden mit den Eltern im Badeurlaub waren und beim Sonnenuntergang am Strand auf billigen 70-Dollar-Akustikgitarren herumzupften, das Anfangsriff von ›The Witch‹ entstand auf einer zweihalsigen Gitarre, für die sich die jungen und unerfahrenen Gebrüder Oliva erst jemandem zum Stimmen suchen mussten. Aller Anfang ist eben schwer. Jon wob all diese alten Riffs und Songfragmente in die neuen Stücke ein, immer wieder blitzt auf RAISE THE CURTAIN die Vergangenheit durch. „Gut die Hälfte der Songs entstand aus dem alten Material“, verrät er. „Ich nahm ein Riff von Criss und überlegte, was man daraus erschaffen könnte. Manchmal fühlte sich das so an, als würde Criss im Nebenraum spielen.“
Textlich hingegen weilt das Werk nicht nur in der Vergangenheit. Autobiograf ische Momente blitzen bei ›10 Years‹ auf, in dem sich Oliva über das allzu schnelle Verstreichen der Lebenszeit auslässt, ›Big Brother‹ nimmt die Waffengesetze Amerikas aufs Korn. „Dann gibt es Lyrics über Horrorfilme, das Ende der Welt oder Soldaten an der Front.“ Auch hier wollte einiges erzählt werden, wie es scheint. Ob nun, da all dies in jener ganz intimen Form der Therapie herausgelassen wurde, noch ein weiteres Soloalbum nachfolgt, will Jon allerdings nicht bestätigen. Noch nicht. „Ich würde gern noch eins machen, doch das Wichtigste war, dieses Album fertigzustellen. Als nächstes kommt erst mal die nächste Jon Oliva‘s Pain-Platte. Und die wird das härteste, was je unter meinem Namen veröffentlicht wurde.“ Die Therapie geht weiter…