Von wegen Schöngeist, Romantikerin und Poetin: Auf ihrem neuen Werk LET ENGLAND SHAKE zieht Polly Jean Harvey in den Krieg – gegen ein Land, das nur noch ein Schatten seiner Selbst ist, von korrupten Politikern beherrscht wird und eine Geschichte aus Blut, Schweiß und Tränen aufweist. CLASSIC ROCK stellte die radikalisierte Musikerin zur Rede.
Polly, bislang hast du dich in deinen Texten eher mit dir selbst befasst. Jetzt wendest du dich plötzlich weltlichen, politischen Themen zu. Wie kommt’s?
Weil ich das Gefühl hatte, dass es für mich als Songwriterin höchste Zeit ist, Themen wie Krieg oder Politik anzugehen. Dinge, bei denen ich bisher dachte, ich hätte nicht die Fähigkeit, sie in Songs zu verpacken. Denn das richtig hinzukriegen, ist eine heikle Balance. Und ich habe erst jetzt das nötige Selbstbewusstsein: eben weil ich seit 20 Jahren Stücke schreibe und merke, dass ich beim Einsatz der Sprache immer besser werde.
Wenn du dir das moderne England anschaust, was siehst oder fühlst du?
Ich denke, meine Gefühle zu England sind ähnlich wie die, die viele Leute im Hinblick auf ihre Heimat haben. Damit meine ich, dass wir alle bestimmte Dinge lieben und hassen. Und es eine überaus schmerzhafte Erfahrung sein kann, mitzuerleben, was dort und in der Welt passiert – in allen Bereichen.
Sprich: Worum geht es dir konkret?
Als Songwriter ist es das Wichtigste, etwas zu präsentieren und damit die Fantasien der Menschen zu beflügeln. Dabei ist es eigentlich egal, was ich denke, und gegen wen sich meine Kritik richtet. Viel entscheidender ist es, Ideen vorzulegen, die relevant sind, und das auch mal auf ironische Art und Weise zu tun, wodurch sie eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Ansonsten überlasse ich es dem Hörer, daraus zu machen, was er will.
Während du den Zusammenhang von Macht, Krieg und Tod betonst?
Keine Frage. England wurde auf dem Blut seiner Bewohner errichtet – und nicht auf der Nettigkeit und Weitsicht seiner Herrscher.
In den Stücken greifst du eine Reihe von historischen Kriegsschauplätzen auf – etwa die alliierte Invasion auf die türkische Halbinsel Gallipoli von 1915. Was hat es mit dieser speziellen Schlacht auf sich?
Das Album besteht aus vielen kleinen Reisen und führt durch viele verschiedene Gebiete. Wobei ich mich nicht auf den ersten Weltkrieg be-schränke. Sondern es bewegt sich weiter bis zur Gegenwart – bis zum Krieg im Irak. Und es führt an Orte wie Afghanistan oder Russland. Wobei sich ›On Battleship Hill‹ auf Gallipoli und den Ersten Weltkrieg bezieht. Denn mir ging es darum, die Zeitlosigkeit des Kriegs darzustellen und wie er sich ständig wiederholt. Also, dass wir uns als Menschen in einem Kreis aus Streit und Versöhnung befinden. Dass bei allem, was passiert, auch immer ein Wechsel und ein Heilungsprozess stattfinden.
Wobei Soldaten Täter oder Opfer sind?
Ich denke, jeder sollte dazu eine individuelle Meinung haben. Aber es ist natürlich wichtig, eine mentale Saat auszulegen – damit sie bei den Leuten bestimmte Gedanken oder Reaktionen auslöst. Denn wir sollten nie die Hoffnung aufgeben, dass die Welt vielleicht doch noch ein fairer Ort wird. Das ist alles, was man tun kann. Nämlich an Dinge glauben, die einem wichtig sind, zu ihnen stehen und versuchen, jeden Tag die bestmögliche Person zu sein, die man sein kann.
Vom Persönlichen zum Allgemeinen, vom Kleinen zum Großen?
Daran glaube ich. Eben, dass Veränderungen in deinem täglichen Leben beginnen – und bei der Art, wie du andere Leute behandelst. Das hat direkte Auswirkungen auf alles in deiner Umgebung. Es löst eine Lawine aus. Und die brauchen wir. Denn es ist wirklich so, dass wir in merkwürdigen Zeiten leben. Ich meine, der Zugang zur Macht verschiebt sich ständig. Und es passiert jeden Tag etwas Neues, Aufregendes. Etwas, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Wie die skurrile WikiLeaks-Geschichte, bei der geheime Daten an die Weltöffentlichkeit gelangen – und dem Seitenbetreiber alles Mögliche angehängt wird, um ihn ruhig zu stellen?
Richtig. Und ich verfolge das sehr genau. Denn diese Geschichte, die sich da vor unseren Augen eröffnet, ist wirklich wahnsinnig aufregend.
Du hast den Titelsong des Albums bei einer BBC-Sendung präsentiert, bei der auch der damalige Premier Gordon Brown Gast war.
Das war wunderbar. Andrew Marr ist ein bedeutender politischer Journalist. Er hat sonntags eine eigene Fernsehshow, die von Millionen Menschen gesehen wird. Und er hat mich eingeladen, darin aufzutreten. Also in derselben Sendung, in der Gordon Brown interviewt wurde. Was unfassbar war. Einer der absoluten Höhepunkte meiner Karriere – eben ›Let England Shake‹ direkt vor ihm zu performen, der damals noch unser Premierminister war. Und das eine Woche vor den Wahlen.
Demnach bist du für seine Abwahl mitverantwortlich?
Das würde ich natürlich gerne von mir behaupten. (lacht) Aber ich habe ihn bei der Gelegenheit ja nicht mal getroffen. Es war jede Menge Security im Studio, und uns wurde gesagt, dass wir uns von ihm fernzuhalten haben. Was schade war. Hätte mich interessiert, was er über den Song denkt.
Woran arbeitest du, wenn du nicht komponierst bzw. live auftrittst?
An einem Projekt mit Seamus Murphy, einem sehr interessanten Fotografen. Wir drehen Kurzfilme zu jedem Song des Albums. Und ich werde in den nächsten Wochen einen Dokumentarfilm zusammenstellen, der hoffentlich vor der Tournee erscheint. Nämlich eine Reise durch England und durch die Songs. Also praktisch eine visuelle Ergänzung zur Musik.
Darf man fragen, was PJ Harvey privat hört?
Ich habe schon lange keine neue Musik mehr gekauft. Außer Sampler mit traditionellem Folk aus Aserbaidschan, China und Kambodscha. Aber ganz allgemein tendiere ich dazu, ältere Musik zu hören – weil es nicht viele Sachen von zeitgemäßen Künstlern gibt, die ich mag.
Wie kommt man an Musik aus Aserbaidschan?
Durch Recherche und das Studieren von traditionellen Folk-Texten. Das sind Dinge, die mich als Songwriter interessieren – einschließlich der Geschichte dieser Songs.
Marcel Anders