Seit 30 Jahren erschüttern New Model Army mit ihren gewaltigen Sound-Attacken die Musikwelt. Und sie haben nicht vor, damit aufzuhören, wie Band-Kopf Justin Sullivan im CLASSIC ROCK-Interview verrät.
Gerade erst haben sie ihre Welttournee beendet. Es war eine Konzertreise mit vielen, vielen Stopps – einige davon haben New Model Army auch in Deutschland eingelegt. Doch nun ist es Zeit, sich ein bisschen zu erholen, durchzuatmen – und endlich auch mal inne zu halten und darüber nachzudenken, was in den vergangenen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren eigentlich alles so passiert ist. New Model Army feiern nämlich ein rundes Band-Jubiläum. Seit 30 Jahren gibt es die britischen Indie-Institution schon – und mit einem Boxset haben die Musiker ihren Fans jüngst eine Sound-Torte zum Geburtstag spendiert.
Dabei liegt das Feiern den Protagonisten Justin Sullivan (Gesang, Gitarre), Marshall Gill (Gitarre), Pete „Nelson“ Nice (Bass), Michael Dean (Drums) und Dean White (Keyboard) gar nicht – zumindest nicht, wenn sie selbst im Mittelpunkt des Fests stehen. „Ich bin dazu gezwungen worden, mir Gedanken über die Karriere von New Model Army zu machen“, sagt Frontmann Sullivan, ein Hüne, der mit einer sanften Stimme spricht, die so gar nicht zu dem wilden, zügellosen Menschen passen will, in den er sich gerne auf der Bühne verwandelt. „New Model Army waren nie dazu gedacht, dass wir mit der Band Karriere machen. Das hat sich einfach so entwickelt. Daher widerstrebt es mir, nun zurückzublicken. Das ist gegen meinen natürlichen Instinkt. Es ging mir immer nur ums Hier und Jetzt. Wir sind stets wild entschlossen, unser Bestes zu geben. Und wir konnten im Laufe der Jahre einige Leute um uns scharen, die uns darin unterstützen und der Band stets loyal zur Seite stehen.“
Wie wichtig das war, zeigte sich besonders in den Neunzigern, einer schwierigen Phase für New Model Army. Denn was 1980 in Bradford noch unter einfachen Vorzeichen begann – es gab nur zwei Regeln: „Keine Tories, kein Kokain“ –, entwickelte sich nach dem (Gold-)Erfolg des 1989er-Werks THUNDER AND CONSOLATION rasch zu einer Unternehmung, bei der auch die Industrie mitbestimmen wollte. Daher wandte sich Sullivan von New Model Army ab und ging eigene Wege mit anderen Partnern. Erst Ende der Neunziger ging es mit kleineren Indie-Releases wieder in die richtige Richtung. So konnte die Gruppe selbst den schmerzhaften Ausstieg des an Krebs erkrankten Drummers und Co-Komponisten Robert Heaton im Jahr 2000 verkraften. Denn der Split mit dem Musiker, der 2004 verstarb, bestärkte sie noch darin, sich fortan nie mehr das Zepter aus der Hand nehmen zu lassen. New Model Army gehörten zu den Ersten, die sich darüber Gedanken machten, wie man den Fans alles aus einer Hand bieten könnte, und verantworteten ihre Veröffentlichungen selbst. Zudem erkannten sie, dass eine Band heutzutage vor allem eins tun muss: auf Tour gehen.
Dies unterscheidet sie von den meisten Acts. Sie denken für sich selbst und für ihre Fans, trauen sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. „Wir sind in vielerlei Hinsicht eine ganz normale Band“, betont Sullivan (54). „Aber einige Dinge sind besonders bei New Model Army. Wir haben Erfolg, gehören aber keinem speziellen Genre an. Und wir hatten noch nie in irgendeinem Land einen Top 20-Hit. Zudem bekommen wir viel Lob für unsere Achtziger-Veröffentlichungen. Aber wir beschränken uns nicht auf die Songs aus dieser Phase, im Gegenteil. Denn abgesehen von den jetzigen Jubiläums-Gigs spielen wir bei den meisten Shows bis zum Zugabenblock nur zwei, drei Stücke aus dieser Ära, der Rest stammt aus der Zeit nach 2000. Und trotzdem sind die Leute begeistert. Sie interessieren sich für uns, unsere aktuelle Entwicklung – und wollen eben nicht einfach die immer gleichen alten Stücke hören. Das ist schon ein Privileg für eine Band.“
Sullivan weiß das zu schätzen. Genauso, wie er die Qualitäten und das Engagement seiner langjährigen Fan-Gemeinde zu schätzen weiß. Dazu zählt speziell „The Following“, eine ebenso treue wie wild aussehende Anhängerschar, die beim Gros der Gigs die Frontreihen bevölkert. Sie waren es, die ihn und seine Mitmusiker immer darin bestärkt haben, unbeirrt weiterzumachen. Auch in schweren Zeiten, so zum Beispiel 2008, als New Model Armys einflussreicher Manager Tommy Tee starb. Der Gedanke, dass hinter der Band eine Gemeinschaft steht, die alles auffängt und mitträgt, hilft nicht nur dem Briten selbst, sondern auch den Fans. Teil der „Familie“ zu sein, ist das vielleicht wichtigste Gefühl, das die Army vermittelt. Daher ziehen sie nicht nur Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten an, vom Banker bis hin zum Schüler, vom Landbewohner bis zum Stadtkind.
Doch was auf der einen Seite funktioniert, eine wohlige Zusammengehörigkeit bildet, grenzt auf der anderen Seite auch aus. New Model Army waren nie eine Band für die Masse. Zu wandlungsfähig – sowohl inhaltlich, musikalisch als auch politisch. Und wenig daran interessiert, sich anzubiedern (oder, netter formuliert, sich stets auf die Seite der Mehrheit zu schlagen). Das hat unter anderem dazu geführt, dass andere Künstler oder Organisationen sie ignorierten. Greenpeace beispielsweise wies New Model Army ab, als es um die Mitwirkung an Benefiz-Shows ging. Tom Jones breitete den Mantel des Schweigens über seine 1993er-Army-Kollaboration beim Stones-Cover ›Gimme Shelter‹. „Wir haben im Laufe der Jahre schon mit einigen PR-Agenturen zusammengearbeitet. Und die Leute dort fragten uns nach jeder Kampagne: ‚Was zum Teufel habt ihr eigentlich angestellt? Ihr werdet ja regelrecht gehasst!‘ Ich kann dazu nur sagen: keine Ahnung!“, so Sullivan mit einem Schulterzucken.
Dies führt(e) natürlich automatisch dazu, dass die Musik von New Model Army in den Hintergrund trat. Dabei ist ihre stilistische Ausrichtung einzigartig. Keine andere Band vermischt derart gekonnt und kompromisslos Punk-Flair mit dem Traditions-Folk der Arbeiterklasse, tiefschürfenden Balladen oder auch wild peitschendem Riff-Rock. Kein Wunder, dass sie damit unterschiedlichste Acts beeinflusst haben – ihr Spektrum reicht von den Levellers bis hin zu Sepultura.
Sie selbst ziehen ihre Inspirationen aus einem ebenso vielfältigen Musiker-Konsortium: „Amerikanischer Soul aus den Sechzigern hat mich schon früh fasziniert“, betont der Brite. „Und dann ist da QUADROPHENIA, meiner Meinung nach das beste Rock-Album aller Zeiten, aufwühlend und wundervoll. Doch ich liebe auch Queens Of The Stone Age, PJ Harvey, Kate Bush oder aktuell Alela Diane!“
Den größten Respekt hat Sullivan jedoch vor Neil Young, dem individualistischen Sturkopf, der sich nach wie vor gegen jegliche Vereinnahmung erfolgreich zu wehren weiß: „Für die Fans, die seiner Generation angehören, ist er wohl der Einzige, der seinen Idealen noch treu geblieben ist. Ich mochte seine Einstellung schon immer – er kann herrlich direkt sein und schert sich einen Dreck darum, was andere Leute über ihn denken. Für jemanden, der schon 65 ist, eine reife Leistung, die ich bewundere. Wir verfolgen einen ähnlichen Ansatz. Und ich glaube, dass wir damit nicht schlecht fahren. Denn immerhin schaffen wir es, die Hallen auszuverkaufen, obwohl wir uns nicht dem Massengeschmack anpassen, sondern einfach die Songs spielen, nach denen uns der Sinn steht.“