Im hohen Norden wird nicht nur eifrig gebangt, sondern auch klassisch gerockt: In Wacken spielen Iron Maiden ihre einzige Deutschlandshow des Sommers und werden zudem von Alice Cooper und Mötley Crüe supportet. Grund genug für CLASSIC ROCK, zur Berichterstattung ins Rock-Mekka zu pilgern.
75.000 Rocker können nicht irren. Seit Monaten schon sind die Tickets für das Festival ausverkauft – Wacken ist nach 20 Jahren mehr Kult denn je. Das liegt am besonderen Flair des norddeutschen Open Airs: das Event an sich ist das Star, nicht etwa ein Über-Headliner, der alles andere in den Schatten stellt. Die Mischung aus familiärer Gemütlichkeit und coolen Acts hat das Organisationsteam auch in diesem Jahr perfekt hinbekommen, wobei für die CLASSIC ROCK-Gemeinde insbesondere der erste der drei Veranstaltungstage Grund zum Jubeln bietet.
Der Wacken-Donnerstag steht traditionell unter dem Motto „A Night To Remember“ – und bietet 2010 mit Gigs von Alice Cooper und Mötley Crüe sowie der einzigen Iron Maiden-Deutschlandshow in diesem Sommer ein herausragendes Programm. Hinzu kommt, dass es auch den Acts immense Freude bereitet, in Wacken aufzutreten. Hauptgrund dafür ist, dass sie hier auf ein begeisterungsfähiges, junges Publikum treffen. Von den Zehntausenden, die sich für den Gig von Alice Cooper vor der größten der vier zentralen Festivalbühnen sammeln, hat sicherlich die Hälfte noch nie einen Auftritt des Schockrock-Meisters gesehen. Und so wird selbst Standard-Showprogramm wie der Einsatz der Guillotine euphorisch bejubelt. Cooper und seine Band genießen die Aufmerksamkeit sichtlich und hauen entsprechend beschwingt auf die Pauke. Schon der Start mit ›School’s Out‹ gelingt nach Maß – den Song kennt schließlich jeder, der mindestens einmal auf einer Abschlussfete war. Doch auch aktuellere und weniger als Gassenhauer bekannte Stücke wie ›Wicked Young Man‹ sorgen für tosenden Applaus und gereckte Heavy Metal-Hörner.
Alice Cooper und seine Band wissen eben genau, wie sie die perfekte Balance aus Show-Einlagen und coolen Rock-Grooves auszusehen hat – daran scheitert an den nächsten beiden Tagen nämlich noch so manche Jungspund-Kapelle. Der Chef jedoch hat die Menge von der erste Sekunde an fest in seiner Hand. Während die untergehende Sonne das Open Air-Gelände in warmes Rot taucht, bringt auch Onkel Alice etwas Farbe ins triste Riff-Grau: Das Kunstblut spritzt nach allen Regel der Kunst – da wird aufgespießt, geköpft, geprügelt und giftgespritzt, bis selbst der tapferste Wacken-Arzt schließlich entnervt aufgibt. Kein Wunder also, dass die partygierige Meute den Zeremonienmeister am Ende gar nicht mehr gehen lassen will.
Doch große Zugabenblöcke sind bei einem minutiös durchgetakteten Festival natürlich nicht drin. Dafür steht sogleich die nächste Attraktion bereit, um die ausgelassene Feierstimmung zu erhalten. Und dafür sind Mötley Crüe ja geradezu prädestiniert. Ihr Konzept („möglichst viel Spaß, möglichst wenig Ernst“) geht an diesem Abend bestens auf. Selbst wenn Tommy Lee nach wie vor mit riesigem Abstand der fitteste Musiker in der Band ist und sich speziell Vince Neil mehrere Gesangsschnitzer leistet, weil er die Töne nicht (mehr) trifft, kann der Mötley-Gig als Erfolg verbucht werden. Die Fans sehen darüber nämlich großzügig hinweg – was vor allem daran liegt, dass sie (ähnlich wie bei Cooper) noch nicht allzu oft in den Genuss eines Gigs der Kalifornier gekommen sind. So lassen sie sich denn auch nur allzu gerne zu „Crüe“-Sprechchören animieren, kickstarten gemeinsam mit der Band die Herzen und die Haarrotoren oder schwingen zu ›Saints Of Los Angeles‹, ›Dr. Feelgood‹ und ›Girls, Girls, Girls‹ die Hüften.
Bei Iron Maiden wird schließlich nicht geswingt, sondern mit den Fäusten gerüttelt. Vor Freude natürlich. Denn obwohl das Programm etwas gewöhnungsbedürftig ausfällt, da sich Maiden dazu entschlossen haben, den Set-Schwerpunkt auf die letzten vier Alben zu legen und dabei auch die neue Scheibe THE FINAL FRONTIER zu promoten, ist die Stimmung ausgelassen. Zwar können die 75.000 nicht – wie noch vor zwei Jahren an derselben Stelle – alle Textzeilen auswendig, das jedoch stört die Band keineswegs. Nachdem einige technische Anfangsschwierigkeiten beseitigt sind, zocken die sechs Musiker locker und befreit durchs Set. Ihnen gefällt es nämlich sichtlich, dass sie nicht immer das gleiche Programm abspulen müssen. Zudem gewinnen Songs wie ›Brave New World‹, die ansonsten oft im Hit-Sperrfeuer von ›Number Of The Beast‹ bis ›Aces High‹ untergehen, heute deutlich an Strahlkraft. Des Weiteren sorgt Sänger Bruce Dickinson, humorvoll wie eh und je, für gute Laune auf und vor der Bühne: Er fordert ständig, dass die Wacken-Fans für ihn „screamen“ und ringt sich im Gegenzug sogar einige Brocken in deutscher Sprache ab. Den meisten Applaus erntet der Sänger allerdings, als er mit hörbarer Wehmut in der Stimme Ronnie James Dio ehrt und ihm den Song ›Blood Brothers‹ widmet – der Track ist eines von vielen Dio-Tributestücken, die an diesem Wochenende performt werden. Auf diesen emotionalen Höhepunkt folgen ›Wildest Dreams‹, ›No More Lies‹ und ›Brave New World‹, bevor mit ›Fear Of The Dark‹ der Klassikerteil eingeleitet wird. Hier sind es inbesondere die drei Zugaben ›The Number Of The Beast‹, ›Hallowed Be Thy Name‹ und ›Running Free‹, die dafür sorgen dass der Wacken-Acker von Tausenden von stampfenden Beinpaaren durchgepflügt wird, während parallel dazu die Locken in Richtung Nachthimmel wirbeln.
Das Wacken-Flair
Das Wacken Open Air ist seit jeher ein Festival, das von seinem entspannten Flair und der friedlichen Stimmung lebt. Daher schlendern selbst die Einheimischen ohne Scheu und Berührungsängste übers Gelände und halten den ein oder anderen Schnack mit einem nietenbewehrten Kuttenträger. Um diese familiäre Atmosphäre trotz der anhaltend hohen Besucherzahlen zu erhalten, haben sich die Veranstalter im vergangenen Jahr dazu entschlossen, eine weitere Attraktion zu etablieren: das Wackinger-Dorf. Auf diesem Areal, das sich nicht auf dem zentralen Festivalgelände mit den vier Bühnen befindet, sondern etwas abseits liegt, treten auch Bands auf, hauptsächlich sollen die Fans dort jedoch im kleineren Rahmen feiern können. Es gibt zahlreiche Stände im Stil eines Mittelaltermarkts, so zum Beispiel einen Getränkeausschank, der wie ein Drachenboot geformt ist, oder aber eine traditionelle Holzofen-Bäckerei. Auch Schaukämpfe finden dort statt. Wer also etwas Ruhe vor dem Riff-Dauerfeuer sucht, ist bei den Wackingern bestens aufgehoben. Eine Attraktion gänzlich anderer Natur steht nur wenige Meter weiter. In einem großen Zirkuszelt buhlen die Wrestler um die Gunst der Fans. Wer sich nach einem Fight etwas Musik gönnen will, kann sich auf der kleinen Red Bull-Showbühne nebenan Nachwuchsbands ansehen, kommt mit ein bisschen Glück aber auch in den Genuss von etablierten Acts: Die Cello-Rocker Apocalytica etwa geben hier am Donnerstag (dem ersten der drei offiziellen Festivaltage, am Mittwoch finden jedoch bereits einige Warm-up-Shows statt) einen Geheimgig vor intimer Kulisse. Zudem können sich Wacken-Fans auf dem Moviefield am späten Abend auch Filme reinziehen: Hier läuft unter anderem die preisgekrönte Dokumentation der Thrasher Anvil („Die Geschichte einer Freundschaft“, siehe auch Review auf Seite 100), die am Freitagnacht auch einen umjubelten Auftritt auf der Hauptbühne hinlegen.
Riffhöhepunkte
Quasi als Fan-Aufwärmprogramm für den anschließenden Auftritt von Alice Cooper treten am Donnerstag Skyline auf – die Band, bei der Wacken-Veranstalter Thomas Jensen sich erste Rock-Sporen verdient hat. Entsprechend kultig ist der Auftritt, zumal sich mit Udo Dirkschneider und Doro Pesch auch noch zwei illustre Gäste mit auf die Bühne schmuggeln. In die Abteilung „Kult“ fallen am Freitag gleich zwei Gigs auf der kleinsten Wacken-Bühne, der W.E.T. Stage: nämlich der von Raven und der von Lizzy Borden. Ebenfalls Kult ist der Headliner-Gig von Slayer. Obwohl die Thrasher in diesem Sommer auf diversen Festivals gerockt haben und entsprechend müde sein dürften, liefern sie beim Wacken Open Air einen ihrer besten Gigs ab. Die Band ist zwar gehandicappt und daher – bis auf Schlagzeuger Dave Lombardo – alles andere als bewegungsfreudig, doch Sound und Songs drücken derart kraftvoll aus der Anlage, dass sich darum niemand schert. Zudem sind Slayer eine grandiose Festival-Band: reduziertes Programm, keine Kompromisse in Sachen Härte – und erst recht nicht in punkto Hits. Klar ist: Ohne ›Angel Of Death‹ und ›Raining Blood‹ kommt hier heute niemand davon. Smoke Blow wecken die Fans am Samstag mit jeder Menge Punkrock-Spielfreude und rotzfrechen Ansagen auf, was ebenso hervorragend ankommt wie das Hit-Sperrfeuer von Blackie Lawless‘ W.A.S.P. und Tobias Sammets Edguy, das am späten Nachmittag über die Fans hereinbricht.
Ebenfalls gelungen: der düstere Ausklang des Festivals auf der Party Stage, wo zuerst Candlemass ihre epischen Doom-Hymnen in die finsteren Kult-Schwarzmetaller Immortal ins Rennen schicken. Anschließend können die Fans noch mit Tiamat in Dunkelheit schwelgen – und sie genießen es sichtlich, dass nach drei Tagen Dauerbeschallung nun nicht mehr brachiale Härte, sondern die WILDHONEY-Melodien das Geschehen regieren.