Konsumkritik à la Professor Prog
Das jüngste Werk des Londoners in einen aktuellen Kontext zu setzen, fällt schwer. 2019 aufgenommen, haben die Ereignisse dieses Jahres nicht nur zu einer Verschiebung, sondern auch einer Überarbeitung geführt. Doch so rapide, wie das Weltgeschehen derzeit Purzelbäume schlägt, könnten die Dinge schon wieder ganz anders aussehen, wenn THE FUTURE BITES Ende Januar 2021 erscheint. Hat sich die Zukunft da vielleicht schon selbst aufgefressen? Das zentrale Thema Konsum und was er mit uns anstellt dürfte immerhin relevant bleiben, auch wenn die von Elton John gelesene Einkaufsliste auf ›Personal Shopper‹ per Mausklick statt Einkaufsbummel im Wohnzimmer landet. Davon abgesehen machte Wilson schon immer Musik, die zwar ihre Einflüsse nie verbarg, selbst aber ohne Verfallsdatum auskam. Die Ketten des bösen P-Worts hat dieser Universalgelehrte dabei schon längst gesprengt, und nach der 80er-Synthiepop-Hommage TO THE BONE von 2017 setzt er diesmal auf Vielfalt. Der atmosphärische, eisklare Ambient von ›King Ghost‹ bildet das erste Highlight, ›12 Things I Forgot‹ sorgt sofort danach mit unbekümmertem Gitarrenpop für Wärme, während ›Eminent Sleaze‹ mit staubtrockenem Finster-Funk einen weiteren Haken schlägt, das bereits erwähnte ›Personal Shopper‹ noch mal die 80er ins Heute holt und ›Follower‹ mit weiter durchgedrücktem Gaspedal den Pulsschlag angenehm erhöht, bevor schließlich das wunderschön elegische ›Count Of Unease‹ einen entrückten Schlusspunkt setzt. Eine solche Achterbahnfahrt hat selbst Tausendsassa Wilson noch nie auf ein einziges Album gepackt. Umso beeindruckender ist, wie homogen und schlüssig das Ergebnis klingt – hier ist ein Künstler am Werk, der nicht nur das Handwerk des Songwritings souverän beherrscht, sondern auch die Kunstform des Albums als Geschichte, als Reise und sich entfaltendes Opus begreift wie nur noch wenige andere. Kurzum: ein weiterer Triumph.
9 von 10 Punkten
Steven Wilson, THE FUTURE BITES, CAROLINE/UNIVERSAL