Das Make-up! Die Mythen und Märchen! Die Filme! Die geheime Geschichte von Kiss, von Gene & Paul.
Für eine der größten Kultbands des Rock’n’Roll aller Zeiten steht 2013 ein weiteres Jubiläum an: der 40. Jahrestag der Gründung von Kiss. „Wir erschufen Kiss als eine Band, die wir sehen wollten“, so Sänger und Gitarrist Paul Stanley. „Eine Band, die größer als das Leben war.“ Mit ihren komplett bemalten Gesichtern und extravaganten Kostümen wurden sie zum Rock-Äquivalent von Comic-Superhelden. „Wir wollten Superman, King Kong und der Weihnachtsmann sein“, so Bassist und Sänger Gene Simmons.
In den 70ern erlangten Kiss als die selbsterklärte „Heißeste Band der Welt“ Legendenstatus. In den 80ern taten sie das Unvorstellbare, zeigten sich ohne Make-up – und hatten immer noch Hits. Und heute, 17 Jahre, nachdem sie das Make-up wieder aufgetragen haben, sind sie immer noch einer der größten Rock-Acts der Welt. Doch in diesen 40 Jahren gab es gute und schlechte Zeiten. Hier erzählen Paul Stanley und Gene Simmons, die verbliebenen Gründungsmitglieder, offen und ehrlich von den größten Herausforderungen und den härtesten Zeiten in der Karriere der Band: die geheime Geschichte von Kiss. „Du kannst die Bestie verwunden“, so Stanley, „aber du kannst sie nicht töten.“
„WIR HATTEN ANGST“
Kiss fingen 1976 mit DESTROYER an, dem ambitioniertesten Album ihrer Karriere, aufwendig produziert von Bob Ezrin. Im Gegensatz dazu war ROCK AND ROLL OVER – acht Monate später veröffentlicht – ein Hardrockalbum ohne Sperenzchen. Dieser Zurück-zu-den-Wurzeln-Ansatz wurde nicht nur aus der Notwendigkeit geboren, sondern auch aus Angst…
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Paul Stanley: Ehrlich gesagt hatten wir so richtig Schiss. Und zwar davor, wo wir mit DESTROYER gelandet waren. Wir hatten die Rauheit von Kiss gegen einen viel höheren Anspruch getauscht. Bob Ezrin war ein Visionär. Ohne ihn hätten wir wieder etwas innerhalb unserer Grenzen erschaffen. ROCK AND ROLL OVER war unsere Kehrtwende zurück zum Live-Sound der Band. Das war keine Astrophysik. Der Gedanke war es, die primitive Qualität von KISS ALIVE! [das Live-Album, mit dem Kiss 1975 ihren großen Durchbruch hatten] zu reproduzieren. Also nahmen wir in einem verlassenen Theater auf. Eddie Kramer, der Produzent, fand das Star Theatre in Nanuet, New York. Ein rundes Auditorium mit ungefähr 2000 Plätzen, aber es war bankrott gegangen. Eddie dachte, dass wir dort dieselben akustischen Begebenheiten wie bei einem Gig hätten. Im Theater probten wir, doch bei den Aufnahmen waren wir nicht im selben Raum. Petes Schlagzeug stand in einer Toilette im oberen Stockwerk und wir wiesen ihn per Videokamera an. Der Live-Vibe hatte mehr mit der Akustik zu tun als damit, im selben Raum zu sein.
Ich war allerdings enttäuscht von dem Album. Ich denke nicht, dass Eddie das lieferte, worum es bei der Band ging. Die Songs waren großartig, aber das Album klang schlechter als das anderer Bands da draußen, was letztlich auf den Toningenieur zurückfällt – und das war Eddie, auch wenn er als Produzent genannt wird. Fans haben diese Vorstellung von uns allen im Studio, wie wir einander in den Armen liegen, unsere Kameradschaft genießen und Musik spielen. Das ist schön, aber das trifft nicht wirklich zu.
„ICH HABE NIE EINEN CENT VON VAN HALEN GENOMMEN“
1977 sah Gene Simmons die Zukunft des Rock’n’Roll in einer Band aus den Clubs von L.A. namens Van Halen. Kiss-Manager Bill Aucoin lehnte sie ab. Fünf Jahre später wollte Eddie Van Halen bei Kiss einsteigen…
Gene Simmons: Ich entdeckte Van Halen. 1977 wurde ich eingeladen, in einem Club in Los Angeles namens Starwood eine Band namens The Boyzz anzusehen. Mein Date war [die Szenegängerin] Bebe Buell. Rodney Bingenheimer, ein DJ und Clubbesitzer, sagte zu mir: „Komm früh vorbei, da gibt es eine Vorgruppe, die du sehen solltest – Van Halen.“ Ich sagte: „Was für ein Name soll das denn bitte sein?“.
Im Starwood war ich auf der Toilette gewesen – du kannst dir vorstellen, was da passiert ist – und kam genau rechtzeitig zurück, um Van Halen auf die Bühne gehen zu sehen. Ich war überwältigt. Ich hatte noch nie einen Gitarristen wie Eddie Van Halen gehört – Edward, wie er es bevorzugt, genannt zu werden. Schon nach drei Stücken wartete ich backstage auf sie. Ich stellte mich vor und sie sagten mehr oder weniger „Hey Mann, danke, dass du die Band magst blablabla…“. Und sie sagten: „Wir haben einen Investor, einen Joghurthersteller“. Ich nahm sie beiseite und sagte, „Nehmt bitte nicht sein Geld. Ihr werdet keinen Penny verdienen. Ich nehme euch unter meine Fittiche, wir machen Demos, ich besorge euch einen Plattenvertrag…“. Also taten sie das.
Sie unterschrieben bei meiner Produktionsfirma, ich flog sie nach New York, verfrachtete sie in die Electric-Lady-Studios und kaufte Dave Lee Roth hochhackige Stiefel und Lederhosen. Wir nahmen 15 Stücke auf – man kann sie als Bootleg bekommen. Das sind eindeutig Van Halen. Ich habe sie nicht erfunden. Ich wollte, dass sie von unserem Manager Bill Aucoin gesignt werden, dass sie unter unsere Fittiche kommen. Aber von Bill Aucoin zu Paul Stanley dachten alle, dass das lächerlich sei. Sie hörten es nicht. Ich sagte: „Ihr werdet das noch bereuen“. Aber ich zerriss ihren Vertrag. Ich habe nie einen Cent von ihnen genommen. Ich hatte es nicht nötig. Aber ich hatte Recht und ihr hattet alle Unrecht, ihr Idioten!
Jahre später nahmen wir CREATURES OF THE NIGHT auf und Eddie kam im Studio vorbei. Wir aßen gegenüber zu Mittag und Edward sagte, dass Roth ihn wahnsinnig machte und er die Band verlassen werde. „Nun, wo willst du hin?“ „Ich will bei Kiss einsteigen.“ Ich sagte zu ihm: „Mach mal langsam. Wenn du bei Kiss Gitarre spielst, wie würde es dir gefallen, wenn Paul oder ich dir sagen würden, ’nein, nein, spiel das Solo anders‘?“ Dann traf er Paul und sagte, „Was hältst du von diesem Song, an dem ich arbeite?“. Er legte ein Demo ein und es fing mit einem Keyboard-Riff an. Ich sagte, „Das ist interessant – wo kommt der Gitarrenpart hin?“. Er sagte, „Nein, das war’s“. Das kann doch nicht wahr sein. „Edward, du bist als Gitarrist bekannt. Das ist Eurodisco.“ Und er sagte, „Nein, das ist cool. Ich werde es ›Jump‹ nennen“.
Also kehrte er zur Band zurück und die Streitereien gingen weiter, die Aufs und Abs, aber ich habe ein reines Gewissen. Ich habe das Richtige gesagt. Du solltest auf der Straße bleiben als der, der du bist, und nicht auf die Straße eines anderen abbiegen.
GRÖSSER ALS DIE BEATLES
Als Kiss im März 1977 zum ersten mal in Japan tourten, erlebten sie Fan-Hysterie im Maßstab der Beatlemania und den Kulturschock einer Gesellschaft, in der Fans bei Rockkonzerten mit einem bizarren Ampelsystem kontrolliert wurden…
Paul Stanley: Wir wussten, dass die japanischen Fans am Flughafen von Tokio auf uns warten würden, also trugen wir im Flugzeug unser Make-up auf und zogen unsere Kostüme an. Aber als wir zur Passkontrolle kamen, mussten wir das Make-up wieder abwischen, damit sie unsere Gesichter mit unseren Passfotos vergleichen konnten. Es war ganz schön nervig, es abzuwischen und dann wieder auftragen zu müssen, aber wir taten es in Rekordzeit und kamen heraus, um uns den Massen zu stellen. Es war das erste Mal, dass wir Amerika verlassen hatten und wussten, dass wir woanders riesig waren, aber nichts hätte uns auf das vorbereiten können, was dann passierte. Im Budokan in Tokio brachen wir den Zuschauerrekord der Beatles. Der Empfang, den wir erhielten, war wie aus einem Film – und das wäre wohl ein Beatles-Film gewesen. Ich sah den Film, aber spielte auch darin mit.
Doch die Geschichte und Tradition in Japan sind von viel Kontrolle geprägt. Diese Gesellschaft war nicht darauf aufgebaut, dass man einfach mal die Sau rauslässt. Es war also etwas seltsam für uns, Konzerte zu geben, bei denen es Ampeln gab, die dem Publikum Signale gaben. Grün bedeutete, dass alles in Ordnung war, Gelb bedeutete, dass die Sache etwas zu wild wurde, und Rot bedeutete, dass man Ärger bekommt. Die Fans wollten unbedingt von ihren Plätzen aufspringen und enthusiastischer reagieren, als es ihnen gestattet war, aber wenn sie aufstanden und ein bisschen ausflippten, war da sofort jemand zur Stelle, der sie anwies, sich wieder zu setzen.
Ace und Peter waren immer geladene Kanonen, also musste man immer ein bisschen auf sie aufpassen. Als Gast in einem fremden Land muss man sich auch entsprechend benehmen. Die meiste Zeit waren wir in unserem Hotel weggesperrt. Aber ich erinnere mich daran, Shoppen zu gehen und es lustig zu finden, dass ich die anderen auf einen Block Entfernung sehen konnte, wenn sie dabei waren. Unsere Köpfe waren sozusagen in den Wolken. Außerdem trug ich abseits der Bühne eigentlich dieselben Schuhe wie auf der Bühne. Dadurch bewegte ich mich schon in einer Höhe, wo die Luft dünn wurde. Wenn man auf der Bühne und abseits davon gleich aussieht, kann man sich nun mal nicht wirklich verstecken.
DIE PHANTOM-BEDROHUNG
1978 spielten Kiss in dem Film „Kiss Meets The Phantom Of The Park“, einem flachgeistigen „Gut-gegen-Böse“-Streifen. Für Schlagzeuger Peter Criss war es der Anfang vom Ende…
Gene Simmons: Peter und Ace waren damals unerträglich geworden. Am Anfang waren sie genauso wichtig wie Paul und ich gewesen, aber 1978 spielte Ace schon nicht mehr auf einigen der Platten und Peter hatte immer eine dunkle Wolke über seinem Kopf hängen.
Bei den Dreharbeiten zu „Kiss Meets The Phantom“ tauchten sie manchmal nicht am Set auf. Es wurde so schlimm, dass ein Double Peter spielte, der beschlossen hatte, dass der Film gegessen war, und sich verabschiedete. Deshalb gibt es einige Szenen, in denen man Nahaufnahmen von Peters Kopf von hinten sieht, aber es ist nicht er. Und Peter sprach so unverständlich, weil man seinen starken Brooklyn-Akzent nicht entschlüsseln konnte. Ein Schauspieler musste seine gesamten Sprechparts übernehmen. Und das machte ihn natürlich ziemlich wütend.
Peter stürzte in einen Abgrund und fing an, Drogen zu nehmen. Als wir den Promotion-Film für die 1979er Tour drehten, wurde es wirklich übel. Das war eine große Kampagne: die Rückkehr von Kiss. Wir mussten einfach nur auf die Kamera zugehen – wir vier in einer Linie. Aber Peter wurde sehr wütend, ging zu einem Glastisch rüber und zertrümmerte ihn mit der Faust. Natürlich waren seine Sehnen hinüber. Wir mussten sechs Monate der Tour absagen, während das heilte.
Sowohl Peter als auch Ace waren Unfälle, die nur darauf warteten, zu passieren. Einmal hielt Ace ein paar Feuerwerkskörper in seiner Faust, schloss sie, steckte eine Zigarette hinein und natürlich explodierte sie. Man wusste einfach nie, was sie als Nächstes tun würden.
„ICH WOLLTE LASSIE AUF MEINEM SOLOALBUM!“
Am 18. September 1978 wurden die Soloalben aller vier Kiss-Mitglieder veröffentlicht. Es war eine nie dagewesene Leistung für eine Rockband – und ein verzweifelter Versuch, Kiss zusammenzuhalten.
Gene Simmons: Ace und Peter waren so unglücklich über die Band, sich selbst, die Drogen, das Saufen und all das, dass sie drohten, die Band zu verlassen. Bill Aucoin berief ein Treffen ein. Das war wie die Konferenz von Jalta, wo Churchill, Roosevelt und Stalin zusammenkamen, um zu diskutieren, wie die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg aussehen würde. Ace war unzufrieden. Er war wie George Harrison bei den Beatles: „Ihr spielt nicht genug meiner Songs“. Also sagte Bill: „Willst du ein Soloalbum machen? Wieso macht ihr nicht alle Soloalben?“ Das war ihm gerade eingefallen. Und Neil Bogart [Chef von Casablanca Records] liebte immer die großen Ideen, also beschloss er, alle vier Soloalben am selben Tag zu veröffentlichen, mit dem Kiss-Logo in der oberen linken Ecke.
Paul Stanley: An sich war das keine schlechte Idee, aber sie löste das Problem nicht. Wir sprachen nicht mehr miteinander. Wir haben uns nicht geküsst, umarmt und gesagt: „Viel Glück mit deinem Album“. Zum Teil machten wir diese Alben, um zu zeigen, wie wichtig jede Person in der Band war. Aber ich machte mir Sorgen, wie die anderen Alben wohl werden würden. Ich dachte, dass ein Versagen sich negativ auf die Band auswirken könnte. Aber es wäre unehrlich, zu sagen, dass ich nicht wollte, das meins besser als die der anderen wird. Und wenn jemand anderes nicht dasselbe sagt, lügt er.
Gene Simmons: Zu dem Zeitpunkt hatte ich meine Seele an Hollywood verkauft. Ich zog bei Cher ein und wir hatten genug Geld, um zu tun, was auch immer wir wollten. Also tat ich das, und wie. Ich stellte eine Gruppe aus Musikern aus L.A. zusammen und flog sie mit der Concorde nach England in die Manor Studios in Oxford. Ich beschloss, nicht Bass zu spielen – ich spielte Gitarre. Und ich wollte alle auf dieser Platte. Ich lud Jerry Lee Lewis ein, der tatsächlich mit seinem Flugzeug kam, aber zu spät eintraf. Ich lud Lennon und McCartney ein und erhielt Nachrichten von ihren Büros, dass sie eventuell interessiert wären, doch dazu kam es nicht, also nahm ich Leute von einer Beatles-Tribute-Band, die für diesen Sound sorgten. Und wir hatten Joe Perry und Rick Nielsen und Cher und Donna Summer und Grace Slick und Bob Seger – absolut alle. Ich wollte Lassie auf dem Ding! Ich wollte alle Regeln brechen.
Ich nahm ›When You Wish Upon A Star‹ auf, ein wichtiges Stück für mich, egal, was die Kritiker sagen. Als junges Einwandererkind in Amerika hatte ich „Pinocchio“ gesehen. Ich weiß noch, wie Jiminy Cricket es sang und dachte, er singt es nur für mich: „Makes no difference who you are…your dreams come true“ (Egal, wer du bist…deine Träume werden wahr). Oh mein Gott! Das war inspirierender als jede religiöse Predigt. Ich weinte, als ich dieses Lied sang. Man kann hören, wie meine Stimme bricht.
Paul Stanley: Ich hielt nicht viel von Genes Album. Es hatte mehr Stil als Substanz. Ich dachte, es ging mehr darum, wen er alles darauf als Gast bekommen konnte. Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob ich ein sprechendes Erdhörnchen auf einem Album habe. Er verkaufte sich unter Wert, indem er versuchte, die Leute zu schockieren. Ich hörte mir alle Alben allein in Bill Aucoins Büro an. Aces Album war eine große Überraschung für mich. Ich hatte in meinem ganzen Leben keine faulere Person getroffen. Aber er schien energiegeladen und aufgeregt darüber, ein Soloalbum zu machen. Ich war überrascht, aber glücklich. Ich erinnere mich, wie ich ›Rip It Out‹ hörte und dachte, das ist echt cool. Es war Ace in Bestform. Peters Album fand ich dagegen entsetzlich. Das war ein Typ, der echt nicht viel zu bieten hatte – und es zeigte! Das erste Mal, dass ich Peters Album hörte, war auch das letzte Mal.
Gene Simmons: In den Geschichtsbüchern – die immer von den schlechten Geschichten fasziniert sind – gelten die Soloalben als Fehlschläge. Ich dachte, sie waren ein Riesenerfolg. Vier Soloalben, am selben Tag veröffentlicht – das hatte noch niemand zuvor getan und auch seitdem nicht, von keiner Band, die je existiert hat. Fünf Millionen Stück dieser Alben wurden am selben Tag ausgeliefert. Und etwa eine Million kam zurück. Aber letztendlich verkaufte sich jedes davon mindestens eine Million mal in den USA. Es war ein großes Experiment und es war nötig, um die Band noch ein paar Jahre zusammenzuhalten.
„DIE BAND HATTE SICH AUFGEGEBEN“
An der Schwelle zu den 80ern waren Kiss in Amerika böse abgestürzt, nachdem der Disco-Sellout ›I Was Made For Lovin‘ You‹ die Rockfans entfremdet hatte. Vom hohen Ross gerissen, versuchten sie, ihre Karriere wieder aufzubauen.
Paul Stanley: Das Interessante am Scheitern ist, dass man sich seines eigenen Anteils daran nicht bewusst ist. Wir blickten um uns und dachten: „Was passiert hier? Und wie kann das nur passieren?“ Aber wir hatten uns verrannt. Wir hatten uns in die Annehmlichkeiten des Erfolg gestürzt und hatten keinen Plan. Die Leute hatten Recht, als sie die Band aufgaben. Die Band hatte sich selbst aufgegeben.
Vini Poncia hatte DYNASTY (1979) und UNMASKED (1980) produziert. So sehr Vini ein Freund war, so falsch war sein Ansatz für die Band. Auf diesen Alben waren tolle Stücke – Gitarrensongs wie ›Magic Touch‹ und ›Tomorrow‹ –, aber bei der Produktion war etwas verloren gegangen. Ich bin da auch nicht unschuldig. Ich war da, als diese Stücke aufgenommen und abgemischt wurden. Letztlich können wir niemand außer uns selbst die Schuld geben. Natürlich hätten wir uns den Titel UNMASKED aufheben sollen, bis wir das Make-up aufgaben. Aber Gene hatte eine Idee für das Cover und leider war es ein peinlicher Akt der Verzweiflung.
Gene Simmons: Es war meine Schuld. Ich fand, wir sollten ein Comic-Cover haben: Eine Geschichte über die Band, die das Make-up abwischt, und darunter ist…das Make-up! Das ist zu verkopft. Kiss sind gewissermaßen gegen das Denken. „Was bedeutet das alles?“ Ist mir scheißegal. Bedeutung ist ex-trem überbewertet. Kiss waren immer einfach gestrickt. Ich nehme die Schuld auf mich.
Paul Stanley: Letztlich hatten wir Glück. Als unser Erfolg in Amerika nachließ, explodierten wir in anderen Märkten. Da war nichts kalkuliert, es hatte nichts damit zu tun, dass wir etwas anders machten – es riefen einfach andere Länder. Auf der UNMASKED-Tour fuhren wir nach Australien, wo wir etwas erlebten, was die Medien als „KISSTERIE“ bezeichneten. Sowas hatten sie noch nie gesehen und sowas hatten wir noch nie gesehen. Wir flogen im Hubschrauber zu Stadionshows. Es war spektakulär.
„ES WAR EINE ENTSCHUL-DIGUNG AN DIE FANS“
CREATURES OF THE NIGHT von 1982 ist das härteste Album, das Kiss je machten. Das musste es auch sein. Nach dem exzentrischen Konzeptalbum MUSIC FROM „THE ELDER“ kämpften Kiss, um ihre Karriere zu retten.
Paul Stanley: CREATURES OF THE NIGHT war eine Entschuldigung an die Fans. Wir sagten damit: „Was zum Teufel haben wir nur getan? Wo sind wir und wie sind wir hier gelandet?“ Und die Antwort war: Wir waren selbst am Steuer gesessen. CREATURES war also eine Deklaration – eine Rückbesinnung auf das Fundament von dem, als was wir angefangen hatten und warum wir diese Band gegründet hatten.
Gene Simmons: Michael James Jackson war unser Produzent. Er nannte sich einfach nur Michael Jackson. Verzeihung, aber ich wollte nicht mit Michael Jackson arbeiten. Ich sagte, „Der Name ist schon vergeben. Adolf Hitler und Fidel Castro sind auch schon vergeben. Du kannst nicht Michael Jackson sein. Stell verfickt noch mal James in die Mitte“.
Während der Aufnahmen zu CREATURES suchten wir immer noch nach einem Gitarristen – Ace hatte uns gesagt, dass er aussteigen werde. Beim Vorspielen hatten wir Richie Sambora und Punky Meadows von Angel – jeder wollte dabei sein, inklusive Eddie Van Halen. Wenn du dir das Album anhörst, hörst du alle möglichen Gitarristen darauf. Ich schrieb ein paar Songs mit Vinnie Vincent, einem talentierten Schreiber und Gitarristen. Und aufgrund seiner Beharrlichkeit und seines Talents als Songwriter wurde er schließlich Gitarrist bei Kiss.
Paul Stanley: Ehrlich gesagt sahen wir Vinnie nie als den Richtigen für die Band an. Er passte äußerlich nicht. Er war einzig ein Songwriter, und ein sehr guter. Letztlich ging es darum, dass wir keine Alternative hatten. Als wir beschlossen, ob wir Vinnie in die Band holen, sagte ich zu Gene: „Das ist ein großer Fehler und wir werden das noch bereuen.“ Und ich sollte Recht behalten.
Gene Simmons: Wir waren so besorgt darüber, dass die Fans von einem neuen Gesicht verstört sein könnten, dass wir Ace fragten, ob es okay wäre, wenn wir ihn aufs Cover tun, obwohl er absolut nichts mit der Platte zu tun hatte. Als wir das Video zu ›I Love It Loud‹ drehten, flog Ace ein und spielte mit.
Als CREATURES OF THE NIGHT erschien, änderte sich die Musikwelt in Amerika. Wir waren in einem Zeitsprung gefangen und fühlten uns überholt. Amerika war ein Desaster, aber zur gleichen Zeit spielten wir in Brasilien die größten Shows aller Zeiten: bis zu 200.000 Zuschauer im größten Stadion der Welt, dem Maracanã.
Paul Stanley: Ich wollte für CREATURES das Make-up abnehmen, aber das passierte nicht. Genes Figur war aber sehr definiert und sehr stark, also war es für ihn furchteinflößender und schwerer.
Gene Simmons: In den 80ern ohne Make-up fühlte ich mich wie eine Prostituierte. Sie wird dich ficken, aber du wirst nichts spüren. Aber für LICK IT UP (1983) waren wir uns irgendwie alle einig: „Lasst uns eine Fotosession ohne Make-up machen. Mal sehen, wie das aussieht…“ Ich war verloren. Ich fand, wir verwässerten, wer wir waren. Für mich war die Magie verschwunden.
„ER WAR DER NETTESTE TYP IN DER BAND“
1980 ersetzte Eric Carr Peter Criss am Schlagzeug. Am 24. November 1991 starb er an Krebs. Die Band wurde dafür kritisiert, ohne ihn weiterzumachen.
Gene Simmons: Das erste Mal, das wir von Erics Krebs erfuhren, war, als er anrief und sagte: „Ich fühle mich wirklich schlecht, ich weiß nicht, was los ist…ich habe Blut gehustet“. Wir waren geschockt. Ich sagte: „Du musst sofort zum Arzt“. Und natürlich fanden die Ärzte innerhalb von ein paar Wochen heraus, dass er bösartigen Krebs hatte. Aus dem Nichts, ganz schnell. Er wurde sofort auf die Intensivstation gebracht.
Paul und ich flogen sofort von L.A. ein, um im Krankenhaus in New York bei ihm zu sein. Er hatte abgenommen und beschwerte sich über das Krankenhausessen. Wir sagten, „Sag bloß den Ärzten nichts, aber was sollen wir dir bringen?“ Er ernährte sich von McDonalds, also brachten wir ihm Big Macs und Pommes.
Wir kehrten nach L.A. zurück und Eric ging es schlechter. Wir unterstützten ihn emotional und finanziell, so viel wir konnten. Er wollte unbedingt aus dem Krankenhaus und mit uns proben, weil wir GOD GAVE ROCK’N’ROLL TO YOU II aufnahmen. Tatsächlich nahmen wir es mit [dem aktuellen Kiss-Drummer] Eric Singer auf, der in Pauls Soloband gespielt hatte.
Dann ging es daran, das Video zu drehen und wir bekamen einen Anruf von Eric Carr, der uns anflehte: „Bitte, ich muss in diesem Video sein, ihr versteht nicht, wie wichtig mir das ist“. In dem Video spielt Eric Carr also ein letztes Mal mit uns. Man konnte nicht sehen, dass er Krebs hatte – er gab noch mal absolut alles. Er muss körperlich am Ende gewesen sein, aber er spielte durch den Schmerz. Bald darauf starb er.
Einige Fans – es gibt immer ein paar – fanden, dass wir pietätlos waren. „Wie konnte die Band weitermachen?“ „Habt ihr ihn nicht geliebt?“ Aber sie waren nicht dabei. Sie sind nicht qualifiziert, das zu beurteilen.
Es war herzzerreißend. Ich war so sauer auf Gott, denn wenn es irgendeine Gerechtigkeit im Universum gibt, gibt es einfach keine Entschuldigung für das, was Eric zugestoßen ist. Er war netteste Typ, der je in der Band war. Er hat nie irgendjemand etwas Böses getan. Ich habe jede Menge Mist über alle möglichen Leute gesagt, und ausgerechnet Eric wurde krank. Letztendlich geht es nur um Gesundheit und Glücklichsein – in der Reihenfolge. Du kannst ein reicher Hurensohn sein, aber wenn du krank bist, bedeutet das nichts.
Paul Elliott